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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder
Autoren: Liao Yiwu
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erschrocken zurück
    mein Töchterchen, dieses lockige kleine Tierchen
    sah in mir sicher eine kahlgeschorene Bestie
    Wollte sie fliehen? Zurück in den Uterus?
    Die Welt war so unzuverlässig
    Miaomiao, mein Ausbruch
    ich wollt dich packen und mitnehmen
    Doch ich hatte keinen Käfig für dich
    wirst du eines Tages
    mit dem Käfig des Blutes unter dem Hemd
    über die Steppe des Lebens gehen?
    3. Oktober 1992

Verborgener Schmerz
    Glühlampen verhüllen diese mehr als tausend Tage
    mehr als tausend Gitter
    mehr als tausend kleine Finger Gottes
    Die Erde
    gespreizt im Vogelkäfig einer vielfingrigen Hand
    eine irreale Nachtigall singt
    – freu dich mit uns
    kauf uns für einen guten Preis
    die Menschheit im Käfig
    die Feinde unter den Menschen
    die Käfige für die Feinde, in denen die Sonne nicht untergeht
    ich höre die Sternbilder singen
    Mein weiches Fleisch ist bleich
    Flaum kriecht über mein Rückenmark
    blau werde ich zu einem Mutanten der amerikanischen Teufel
    mein Vergehen heißt: Liebe zum Dunkel [72]
    gib mir meinen dunklen Schatz
    den verborgenen Schmerz, das Tagebuch, die Briefe
    die von der Nacht verhüllte Sexualität, gib mir
    den Ödipuskomplex
    und das schlürfende Saugen an der Brust
    Die Hölle der Bücher ist meine Heimat
    Bring uns weg
    Fledermaus
    der Mond, salzkorngesättigt
    eine Frisbeescheibe
    ein Sandfleck unter rundem Mond
    Bring uns weg
     Alles in einem Blick
     wie ein in der Düne verendetes Pferd
    Seele, Herz, After, Emotion
    verloren um das Pferdegerippe herum
    Blinder Engel
    bring uns weg
    gib mit deinen Schallwellen Befehl an die neun Treppen
    und diese strahlende Geschichte aus den Bajonettbüschen
    erzähl sie den naiven Gargoylen
    August 1992

Fremd
    1
    Der Fremde kehrt heim in sein Dorf
    die Welt begrüßt ihn hochschwangeren Bauches
    ein leichter, fließender Himmel, die Sonne ein Ovulum verborgen
    in wirrem Schamhaar
    Das ist die Morgendämmerung, schälchengroße Mantous sind noch nicht gedämpft
    der Teeladen macht auf, der Kleine Teufel geht mit Hahnenschritten
    und attackiert den Raucher, der schattenboxt. Das Lampenlicht, eine fischgleich
    zum Himmel steigende alte Pisseblase, weckt mit Feuchte die Stadt
    Die Stadttore mit dem Muster von Bronzegeld verschlucken die Wagen
    an beiden Seiten der endlosen Zunge
    fallen schlaflose Huren zwischen den Zähnen aufs Bett, schminken sich ab
    Ihr Lude steckt die Hand in den Latz, übt Eisenhoden-Kung-Fu [73]
    Erst wenn die Sonne schwillt
    wird dem Fremden klar, dass sein Zuhause abgerissen ist. Er klopft gegen Pfade
    die Hochhäuser mit ihren stinkenden Mäulern balgen sich um die Antwort
    goldener Herbst, ein Himmel von fetten Seidenspinnern nagt an den dunklen Wolken
    der Fremde fängt mit einer Hand eine Alte auf, die wegen ihrer Schulden vom Dach springt
    die Menge belohnt ihn mit dröhnendem Gelächter
    Ein Richter läuft herbei, verurteilt die Selbstmörderin, in seine Pflege zurückzukehren
    der Fremde fühlt sich unglücklich, er muss als Schmied sein Brot verdienen, seine Zeit vertreiben
    das Jahr geht vorbei, die Alte passt nicht auf, bekommt ein Kind
    die Zugewanderten säuseln:
    Schau nur, drei Generationen unter einem Dach, verlassen und einsam
    2
    Der Fremde rast. Erdolcht die Klatschbase
    gibt den Landweg auf, flieht über das Wasser
    zerreißt den alten Bauernkalender, will die Maske wechseln
    das Firmament geht mit einem Ratsch in Fetzen
    und treibt auf dem Fluss, der schwer an ihm trägt
    Licht, durch Kinderpisse gefiltert
    Augen und Tage dachziegelblau
    Zivilkleidung auf der Lauer in Papierschnitzelbooten
    wie impotente Männer auf den Betten nicht registrierter Nutten
    Der Sternenhimmel erklimmt den Rücken des Universums
    Die verfluchten Berge saugen dem Universum die Milch aus
    Ich will den Bergen die Zähne einschlagen
    an alten Brüsten kauen und einen Blick werfen auf Gott
    Ich will dem Gesetz die Ohren abschneiden und sie fressen zum Schnaps
    Im Suff den Sohn der Alten kastrieren
    ich mache aus ihm eine Richterin
    sie soll den Richter noch einmal verführen
    Fluss! Fluss!
    Dein Hundekopf will mein Boot umstürzen
    3
    Die Gefängnisindustrie fließt durch die Adern, entwickelt sich
    schließ die Augen und du kannst dir ein Bajonett denken, Elektronetze und schwedische Gardinen
    Der Mond geht rund ins Himmelnetz
    wird abnehmend zur Mauer
    auf ihr der Wachwechsel der Soldaten
    Sterne sind Todeskandidaten, die kopfüber in die Grube stürzen
    der Vorhang der Nacht bewegt sich zweimal
    Wie wird Stahl
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