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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite
Autoren: David Wellington
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die nötige Energie, um die Luft anzuhalten. Jetzt waren die Schritte genau
über ihr – und verharrten.
    Dann geschah nichts. Cheys Lungen protestierten. Langsam ließ sie
den Atem entweichen, und noch immer geschah nichts. Anscheinend hatte er nicht
mitbekommen, wohin sie verschwunden war. Er hielt vermutlich dort oben Ausschau
nach ihr, versuchte ihrer Spur zu folgen. Er sah sie nicht, selbst wenn er vor
dem Fahrerhaus stand und hereinspähte – die Dunkelheit, in der sie lag,
war so gut wie undurchdringlich.
    Sie wartete und lauschte. Und schließlich entfernten sich die
Schritte wieder.
    Langsam entspannte sich Chey, erlaubte ihrem Körper, sich eine
bequemere Haltung zu suchen. Zischend stieß sie die angehaltene Luft aus.
    Sofort rannte Balfour los. Er hatte offenbar darauf gewartet, dass
sie sich verriet, hatte im Hinterhalt gelauert.
Seine Schritte dröhnten über die Unterseite des Lastwagens, und dann
kletterte er am Kühlergrill hinunter, benutzte die Stangen wie eine Leiter.
Seine Füße kamen vor der Windschutzscheibe in Sicht, dann seine Beine. Er ließ
sich auf die Halde aus Erzabfällen vor dem
Lastwagen fallen. Sein Körper erschien als Silhouette vor dem Fenster.
Dann hob er eine Taschenlampe, schaltete sie ein und lenkte den Strahl in das
Führerhaus. Das Licht blendete Chey, und sie hob abwehrend die Hände.
    Balfour zog eine Pistole aus der Jackentasche. Chey vermochte nicht
zu sagen, ob die Kugeln aus Silber oder Blei waren – es war auch
unwichtig. Er hatte sie erwischt. Sie entkam
nicht aus der Fahrerkabine, jedenfalls nicht schnell genug, um vor ihm
zu fliehen.

58   »Okay«,
sagte Balfour. Die Stimme passte zu ihm. Schroff, aber nicht allzu tief.
    »Okay – was?«, fragte sie.
    Er bedeutete ihr mit der Pistole, aus dem Lastwagen zu steigen. Chey
musterte sein Gesicht. Da war kein Lächeln mehr zu sehen. Er hatte seinen Spaß
gehabt, und er hatte dieses Spiel gewonnen. Jetzt würde er sie erledigen, damit
er die Bezahlung für seinen Vertrag einfordern konnte. Es war vorbei.
    Chey schob sich mit Armen und
Beinen von der Wagendecke. Dann warf sie sich einer plötzlichen Eingebung
folgend gegen die Windschutzscheibe. Ihr Körper wog nicht gerade viel und hatte
auch nur wenig Kraft, um den Schwung noch zu verstärken, aber es reichte.
    Der Lastwagen schrie förmlich auf, als Metall riss. Schweißnähte
platzten, Nieten schossen wie Kugeln hervor. Die massive, mehrere Tonnen
schwere Karosserie rutschte vorwärts. Erzklumpen spritzten unter dem Gewicht
zur Seite, der Wagen glitt wie auf Schienen weiter. Balfour riss die Augen weit
auf und feuerte durch die Windschutzscheibe. Chey sah nicht, wo die Kugel
landete. Eine Sekunde später hatte der Lastwagen an Geschwindigkeit zugenommen
und donnerte direkt in Balfour hinein. Er wurde nach vorn gestoßen, als das
Vehikel kippte und mit ohrenbetäubendem Platschen und der lang gezogenen Bassnote
zusammengedrückten Metalls im Wasser landete.
    Die Windschutzscheibe war zum Boden
geworden. Chey lag darauf, stöhnend vor Schmerz. Der Sturz hatte wehgetan, aber
keinesfalls auf eine Weise, die zählte – keinesfalls auf eine Weise, die
sie umbringen konnte. Sie rieb sich die Stirn und öffnete die Augen.
    Unter Wasser starrte Balfour sie unverwandt an, angestrahlt vom
Schein seiner Taschenlampe. Seine Mütze war verloren gegangen, sein spärliches
Haar trieb in den silbrigen Luftblasen, die aus seinem Mund strömten. Chey
vermochte nicht zu sagen, ob er lebte oder tot war. Seine Augen waren weit,
weit aufgerissen.
    Dann schlug er mit den Handflächen gegen die Windschutzscheibe,
schlug gegen das Glas, während sich sein Mund öffnete und toxisches Wasser
hineinströmte. Chey schrie auf, als sie sah, wie sich sein Gesicht verzerrte,
wie er unter ihren Blicken ertrank. Er war unter dem Lastwagen eingeklemmt und
kam nicht frei. Seine Muskeln erschlafften, seine Hände trieben zur Seite, und
schließlich verloren seine Augen nach viel zu langer Zeit ihre Schärfe.
    Sie rührte keinen Finger, ihn zu retten.
    Eiskaltes Wasser gurgelte durch das Einschussloch in der
Windschutzscheibe und das offene Fahrerfenster herein. Es drang in Cheys
Kleidung und umspülte ihren Körper. Der Salzgestank
des Schlamms verdrängte den Rest atembarer Luft in der Fahrerkabine.
Chey sprang auf, wich vor der Berührung des Wassers zurück und stieß sich durch
das offene Beifahrerfenster, bevor es noch weiter untertauchte und das Wasser
ungehindert in die Kabine
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