Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite
Autoren: David Wellington
Vom Netzwerk:
zweiten Mal hatte
sie bloß versucht, sich von einem Lichtmast zu befreien.
    Ihr kam der Gedanke, dass sie sich möglicherweise mit einer Waffe in der Hand etwas selbstbewusster fühlen
würde. Sie sah sich um und fand eine verrostete Eisenstange. Die gab eine
vernünftige Keule ab. Dann kauerte sie sich in die Schatten und wartete.
    Der Hubschrauber wirbelte Staub hoch in die Luft auf, als er sanft
auf dem Boden aufsetzte. Die Tür wurde aufgestoßen, und Bobby sprang heraus. Er
rannte zu Pickersgills Leichnam und beugte sich darüber.
    Chey war schneller als er. Am besten wäre sie sofort zu ihm
hinübergelaufen, solange er ihr den Rücken zukehrte, und hätte ihm den Schädel
eingeschlagen, bevor er sich umzudrehen vermochte. Das hätte einige Probleme
aus der Welt geschafft. Das hätte sie befreit.
    Dann erblickte sie die Pistole in seiner Hand. Zweifellos war sie
mit Silberkugeln geladen. Falls sie mehr Lärm verursachte als gedacht, falls
sie auf dem Weg stolperte, falls sie ihm auch nur den Bruchteil eines
Augenblicks ließ und er erkannte, dass sie da war – konnte er sich
herumwerfen und sie erschießen.
    Sie fasste die Eisenstange fester und hoffte auf einen Einfall, was
sie als Nächstes tun sollte.
    Da wandte er sich um und sah sie unverwandt an, und das Blut gefror
ihr in den Adern.
    In der nächsten Sekunde würde er die Pistole heben. Er würde auf sie
zielen und schießen. Ihre Muskeln spannten sich, und sie machte sich zum Sprung
bereit. Vielleicht hatte sie ja eine Chance, den Bruchteil eines Augenblicks
für einen Sprung, bevor er feuerte. Ihre Haut juckte vor Anspannung, vor dem
Drang zu springen …
    Aber bevor sie auch nur eine Bewegung machen konnte, wandte er sich
um und kehrte zum Hubschrauber zurück. Stieg ein und machte eine ungeduldige
Geste. Die Maschine hob ab und flog los.
    Er hatte sie nicht gesehen. Er hatte in den Hangar geblickt, aber in
der Dunkelheit hatten seine menschlichen Augen sie nicht entdeckt.
    Chey stieß einen langen verzweifelten Seufzer aus. Das war fast zu
knapp gewesen.
    Hier konnte sie nicht bleiben, das war ihr klar. Sie befand sich
nicht weit genug von Pickersgills Leiche entfernt. Vielleicht war Bobby nicht
bereit gewesen, das Gebäude selbst zu durchsuchen, und möglicherweise schickte
er Balfour. Balfour, den furchterregendsten der drei Brüder, den
Scharfschützen.
    Wenn sie überleben wollte, musste sie ein anderes Versteck finden.
    Ihr Blick schweifte über Port Radium hinweg und blieb an den
zurückgelassenen Maschinen hängen, die in ihrem verseuchten Bad vor sich hinrosteten.
Dort unten gab es mit Sicherheit ein Versteck.
    Chey lief so schnell wie möglich den Hügel hinunter. An einer Stelle
traten ihre Füße ins Leere, und sie rollte über den Weg. Schlamm spritzte ihr
ins Gesicht, drang ihr in den Mund, Schotter regnete ihr ins Haar, brannte ihr
in den Augen, und dann war sie wieder auf den Füßen und in Bewegung. Wasser
schoss auf, das sich sonderbar anfühlte, dicker und fremdartiger als
gewöhnliches Wasser. Wo immer sie die Oberfläche aufwühlte, wirbelten wogende Schlammwolken
empor, und ein übler salziger Gestank stieg in die Höhe und raubte ihr die
Luft. Ein fauliger alter Geruch, anorganisch und erstickend. Chey hustete
blutigen Schleim und spuckte ihn in die Wogen, die sich um ihre Beine
ausbreiteten. Sie ging weiter.

56   Kurz
vor dem Gipfel des Schrotthügels stand ein Schulbus. Die meisten Fenster waren
noch immer unversehrt. Falls es Chey hineinschaffte, konnte sie sich dort
verstecken, zumindest für eine Weile. Natürlich wäre der Aufstieg nicht
einfach, aber das machte das Fahrzeug als Zuflucht nur noch verlockender. So
schwer ihr die Kletterpartie auch fiele, einem Menschen wäre sie so gut wie
unmöglich.
    Unmittelbar vor ihr ragte die gewaltige eingedrückte Masse eines
Tunnelbohrers auf, einer großen runden Maschine mit einem zahnbewehrten
schlundähnlichen Bohrkopf an einem Ende. Seinerzeit hatte man damit offenbar
Minenschächte gegraben, und Chey hegte nicht den geringsten Zweifel, dass er
mühelos durch den harten Fels geschnitten hatte. Alter und Erosion hatten die
Meißel stumpf gemacht. Quer über der Führerkabine lag eine massive Kette, deren
Glieder dem Durchmesser von Cheys Oberschenkeln entsprachen. Sie packte die
Kette und zog sich aus dem verseuchten Schlamm
in die Höhe, kletterte wie an einer Leiter daran hinauf. Oben stemmte
sie sich auf den Bohrer und stolperte die Seite eines Hügels aus
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher