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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite
Autoren: David Wellington
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Erzabfällen
entlang, einer Anhäufung faustgroßer Steine, die unter ihrem Gewicht
zerbröckelten.
    Ein Stück voraus entdeckte sie eine Stelle, wo ein Bündel
Eisenstangen zu einem dicken Strang zusammengerostet waren. Er ragte aus der
Hügelseite heraus. Die einzelnen Stangen waren nicht dicker als ihr Daumen.
Daran konnte sie sich auf die Hügelkuppe schwingen, von dort wäre der Schulbus
leicht zu erreichen.
    Chey griff nach einer Stange und zog daran. Das Eisen gab nach, aber
nicht allzu stark. Und wenn es in ihrer Hand zerbrach? Ihre Position war
geradezu lachhaft unsicher. Mit einem Fuß stand sie auf den nachgiebigen
Erzabfällen, mit dem anderen auf einem verrosteten Metallblech, das vermutlich
ihr Gewicht nicht trug.
    Wie auch immer – es gab dringendere Probleme, als Angst vor
einem Sturz in den Teich zu haben. Chey beugte sich so weit nach vorn wie
möglich und sprang, schwang sich an der Stange weiter, während sich ihr ganzes Gewicht
mit der Schwerkraft verschwor, das Eisen zu brechen.
    Die Stange hielt. Chey warf die Beine in die Höhe, um oben auf dem
Hügel zu landen, verfehlte ihn aber.
    Sie stieß einen Fluch aus und
pendelte zurück, konnte wieder einen Fuß auf die Erzabfälle setzen. Ihre
Hände an der Stange schmerzten scheußlich. Sie hielt inne, aber nur ganz kurz, dann fasste sie die Stange anders.
    Als sie sich für den nächsten Versuch bereitmachte, vernahm sie ein
schnappendes Geräusch. Staub explodierte neben ihrer Wange, ein Stein
zerplatzte unvermutet zu Geröll. Aber vielleicht auch nicht ganz so unvermutet.
    Das nächste Schnappen, als würde ein Roboter husten, und etwas
sauste an ihrem Ohr vorbei. Etwas Hartes und Metallisches. Eine Silberkugel.
    Chey wandte sich langsam um, denn sie konnte einfach nicht mehr, und
entdeckte eine Gestalt am Ufer, die ein Jagdgewehr hielt. Der Mann ließ sich
Zeit, hob das Gewehr ans Auge und zielte auf sie. Ihr blieb kaum genug Zeit für
einen Sprung, bevor er die dritte Kugel auf sie abfeuerte.
    Das konnte nur Tony Balfour sein, der da auf sie zielte.
    Viel Sinn ergab das nicht. Silberkugeln taugten nichts für ein
Gewehr. Sie waren zu ungenau als Projektile. Bobby hatte sich da sehr klar
ausgedrückt. Balfour hatte bereits drei Kugeln verschossen und neben ihrem Kopf
getroffen. Er hatte keine Probleme, sein Ziel zu finden. Benutzte er doch
normale Bleikugeln? Aber warum?
    Er lächelte. Im Sternenlicht sah sie seine Zähne. Er legte das
Gewehr in der Armbeuge ab und zog ein langes Messer aus einer Scheide am
Gürtel. Die Klinge funkelte ein wenig in der Dunkelheit, und Chey wusste, dass
sie aus Silber bestand.
    Sie verstand. Er wollte sie nicht
mit Bleikugeln töten, sondern sie bloß aufhalten. Wenn er ihr mit dem
Gewehr in den Kopf schoss, dann brachte sie das technisch gesehen nicht
um – aber sie konnte nicht mehr weglaufen. Um zu laufen, brauchte man eine
funktionierende Medulla oblongata, den hintersten Gehirnteil. Sie stellte sich vor, wie sie ausgestreckt auf der hohen
Schrotthalde lag, wie ihr Blut auf die rostigen Maschinenteile tropfte, ihre
Augen nicht mehr klar sahen, ihr Mund sich nicht mehr schloss. Wie Balfour
vorsichtig nach oben stieg, sich dabei alle Zeit der Welt ließ, das Messer in
der Hand.
    Würde sie spüren, wenn er sie
abstach? Wäre sie dann überhaupt noch bei Bewusstsein? Würde er schnell
machen, ihr einen Stich in die Brust setzen oder sich Zeit lassen?
    Balfour winkte ihr fröhlich zu und setzte sich in Bewegung.
    Vorsichtig, fast schon graziös trat er vom Ufer in das schwarze Wasser. Der Schlamm umspülte seine Stiefel,
und er verzog auf fast schon komische Weise das Gesicht, aber er blieb nicht
stehen. Ein Bein hinein, dann das andere, watete er weiter, bis es ihm zur
Hüfte reichte. Dann blieb er stehen und sah zu ihr hoch. Er nahm das Gewehr
wieder in beide Hände und betrachtete sie erwartungsvoll.
    Da wurde ihr bewusst, dass sie sich keinen Zentimeter bewegt hatte,
seit er nicht mehr schoss. Sie musste wieder
auf die Beine kommen, musste fliehen. Warum drückte er nicht ab?
    Er nahm das Auge vom Visier und
hob eine Hand. Mit einer abschätzigen Geste bedeutete er ihr weiterzugehen. Er
wollte, dass sie floh! Er wollte sie jagen, weil er ihren Tod auf diese Weise
mehr genießen würde.
    Adrenalin flutete ihr Blut und trieb sie an. Vergessen war die Sorge
wegen ihres Halts, sie sprang einfach über das Gestein und ohne Unterbrechung
weiter auf die Reifen eines umgekippten Lastwagens. Sie griff nach allem,
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