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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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schaffe es
nicht allein. Will ich überleben, dann bist du meine einzige Chance. Ich muss von
dir lernen.«
    »Ich tötete deinen Vater«, sagte er. »Wie solltest du mir das jemals
verzeihen?«
    »Ich … kann es nicht«, antwortete sie. »Aber darum geht es nicht,
das …«
    »Ich müsste ein völliger Narr sein, um dir zu vertrauen. Hältst du
mich für einen Narren? Verschwinde, so schnell du kannst, Chey! Lauf weg und
komm nicht zurück!«
    »Ohne dich schaffe ich es nicht«, beharrte sie. »Ich kann hier oben
nicht allein überleben.«
    Er wandte sich um und ging. Warf ihr einen letzten Blick zu –
weniger einen Blick des Mitgefühls als vielmehr der Neugier, als erwarte er von
ihr, dass sie noch etwas sagte oder tat, um ihn aufzuhalten.
    »Powell«, rief sie, »ich brauche dich!«
    Es reichte nicht. Er ging weiter, und bald hatte ihn die Finsternis
verschluckt.

55   Lange sann sie darüber nach, was sie tun sollte.
Damals in dem Feuerturm war ihr alles so einfach vorgekommen. Sie hatte Powell
finden und ihn davon überzeugen wollen, dass sie einander brauchten. Dann wären
sie zusammen zum Horizont gelaufen. Hätten eine Möglichkeit gefunden, gemeinsam
zu überleben.
    Ohne ihn war sie zu ewiger Einsamkeit verdammt. Musste alles
daransetzen und es ihm gleichtun – sich möglichst von allen Menschen
fernhalten, um sie am Ende nicht zu töten. Es schien ihr das schrecklichste
aller vorstellbaren Schicksale zu sein. Denn war ein solches Leben wirklich
besser, als den Ausweg zu wählen, den Bobby im Auge hatte: eine schnelle
Silberkugel in den Kopf?
    Sie hätte auf dem Yellowhead Highway sterben sollen. Lykanthrop tötet zwei Menschen bei blutigem Straßenmassaker, keine Überlebenden . So hätte sich das abspielen sollen. Wie oft hatte sie schon gedacht, dass
sie diesen Ausgang vorgezogen hätte, und zwar ernsthaft. Die
Schuldgefühle, den Tod ihres Vaters überlebt zu haben. Die Folgen – das Trauma und die Angst und die Depressionen
und das Unglücklichsein. Die Schlaflosigkeit,
die ihr ganzes Leben bestimmt hatte. Das alles hätte nicht sein müssen.
Wenn sie starb, wenn sich jemand zwölf Jahre nach dem Vorfall tötete, wäre das
Gleichgewicht wiederhergestellt. Auf eigene schlimme Weise. Chey wusste, dass
sie nur wenig vom Universum verstand, aber sie wusste, dass Geschehnisse nicht
selten ein böses Ende nahmen. Manchmal war der Wunsch nach einem Happy End
einfach nicht angebracht.
    Lykanthrop tötet zwei Menschen.
    Nein.
    Dieses Ende gefiel ihr nicht. Sie hatte so schwer geschuftet.
Manchmal ziellos, manchmal sinnlos, aber sie
hatte hart dafür gearbeitet. Sie war aus einem Feuerturm gesprungen und
hatte den Sturz überlebt. Sie hatte ihren Onkel gegen seinen Willen überzeugt,
etwas für sie zu tun. Sie hatte sich eine Wolfspfote auf die Brust tätowieren lassen, um etwas von Powells
Kraft zu stehlen.
    Nein, sie gab nicht auf. Sie wollte nicht sterben.
    Sie rannte zu der Stelle, an der Pickersgill noch immer tot auf dem
Parkplatz lag. Sie durchsuchte seine Taschen und fand den Schlüssel für die
Handschellen. Dann verbrachte sie einige nervtötende Minuten, um
herauszufinden, wie man sie öffnete. Ohne die Metallfesseln fühlte sie sich
etwas besser. Zumindest etwas freier. Sie ließ sie fallen und erhob sich, rieb
sich die Gelenke, wo sie Abschürfungen
erlitten hatte, als Powell sie in den Hangar geschleift hatte.
    Bevor sie ihren nächsten Zug planen konnte, hörte sie den
Hubschrauber auf sich zukommen. Die Besatzung wollte garantiert nach Bruce
sehen. In der vollkommenen Stille dieses toten Orts war der abgehackte Lärm der
Rotoren beinahe ohrenbetäubend. Die Maschine umkreiste ein paarmal den Hangar,
dann verharrte sie mitten in der Luft und schwebte dort eine Weile.
    Dann sank sie langsam, als ertaste sie sich seinen Weg durch die
Nacht. Schwebte nach unten, um zu landen.
    »Scheiße«, sagte Chey und rannte in
den verrosteten Bau. Den Rücken gegen eine Wand gedrückt, spähte sie in
die Finsternis und fragte sich, was sie täte, wenn Bobby sie hier fände. Er
würde sie zu töten versuchen, sobald er sie entdeckte. Er würde nicht zögern.
Ihre einzige Chance bestand in einem Erstschlag. Aber wäre sie wirklich fähig,
ihn zu töten?
    Du bist ein Ungeheuer, sagte sie sich. Ungeheuer handeln so.
    Es fiel ihr schwer, sich selbst davon zu überzeugen.
    Bisher hatte sie zwei Männer getötet, die Pickersgill-Brüder. Beim
ersten Mal hatte ihre Wölfin die Drecksarbeit erledigt. Beim

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