Frohes Fest!
und dann improvisierte ich. »Der Große Blandini, der in Not geraten war, trug einen Stapel vorher schon geschriebener Aufklebeetiketten bei sich. Wenn er ein Paket sah, das offensichtlich teure Geschenke enthielt, weil es von Harrods oder ähnlichen Geschäften kam, benützte er seine Hustenpastillen, um heimlich ein Etikett herauszuholen, leckte es an und klebte es über die ursprüngliche Adresse. Deshalb konnten Sie auch nur jedesmal etwas Weißes erkennen. Auf diese Art würde das Paket an ihn oder zu Freunden und Verwandten geschickt …«
»Nein!« Raw sprang augenblicklich auf. »Ich bin überrascht von Ihnen! Glauben Sie, auch wenn ich noch so jung war, ich hätte ihn laufen lassen, wenn er einen persönlichen Vorteil aus der Sache gezogen hätte?«
Ich setzte mich verwirrt und beschämt wieder hin. »Nein!« donnerte Raw noch einmal. »Was er hatte, war eine Liste der Patienten aus einem der größten Krankenhäuser Londons, wo er selbst seiner TB wegen behandelt wurde. Er hatte die Etiketten vorgeschrieben – da hatten Sie allerdings recht: gratuliere! – für die Familien, denen es voraussichtlich an Weihnachten am schlechtesten gehen würde. Er nahm nichts für sich, das glaube ich immer noch: nichts, nichts, keinen Penny! Er war der Große Blandini gewesen und hatte sein Leben damit verbracht, Kindern Freude zu machen; er hatte gesehen, wie sie auf der Straße verhungert waren in der Gegend, wo er wohnte, weil ihre Väter oder ihre Mütter zu krank zum Arbeiten waren, wenn sie überhaupt eine Arbeit fanden. Deshalb, deshalb ließ ich ihn laufen! Ich war bereits viel zu sehr Polizist, um ihm andernfalls vergeben zu können!«
Viele rutschten aus Verlegenheit auf ihren Stühlen hin und her, wie immer, wenn nackte Emotionen vor Leuten gezeigt werden, die sich kaum kennen. Dann sprach Maud Gray. Ich weiß, ich mache mich manchmal über sie lustig, aber diesmal hatte sie recht.
»Herr Rawlings«, sagte sie nachdenklich, wobei sie nicht ihn anblickte, sondern den abscheulichen Teppich, den sie letztes Mal ausgesucht hatte, als wir uns leisten konnten, neue Einrichtungsgegenstände für die Clubräumlichkeiten anzuschaffen, »mir ist klar, daß die Menschen hier den heutigen Abend mehr genossen haben als bei vorherigen Anlässen. Vielleicht kam das daher, daß Sie, wie Sie beim Erzählen Ihrer Geschichte gezeigt haben, mehr von jenem Geist der Weihnacht vermittelten, als wir das normalerweise gewohnt sind. Ich hoffe, Herr Bland starb in der Gewißheit, seine Fertigkeiten einem würdigen Nachfolger vermittelt zu haben. Ich bin sogar ganz sicher!«
Damit lehnte sie sich zurück und sah jeden einzelnen von uns herausfordernd an. Wieder breitete sich Schweigen aus – und dann konnte ich die Leute nicht mehr zählen, die sich um das Privileg rissen, mit Raw und dem Armagnac anzustoßen.
Originaltitel: »A Christmas Crime«
Copyright © 1991 by Brunner Fact & Fiction Ltd.
(Erstveröffentlichung); mit freundlicher Genehmigung des Autors
und der Agentur Agence Hoffman
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Englischen übersetzt von
Uwe Luserke
John R. Little
Schatten aus der Vergangenheit
Ich hatte schon seit Jahren nicht mehr an die kleine Schachtel gedacht. Seit Jahrzehnten beinahe. Eine kleine Schachtel, in nagelneues Silberpapier eingepackt und ganz hinten unter den Weihnachtsbaum gelegt.
Es war an dem Weihnachten, als ich zehn wurde. Paps und Mammi ließen mich meine Geschenke nicht vor dem Frühstück auspacken, und bis dahin war ich so aufgeregt, daß ich beinahe platzte. Ich schlang meine Cornflakes hinunter und rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Komm schon, Mammi. Zeit, die Geschenke auszupacken!«
Mammi lächelte nur. »Bald ist es soweit«, sagte sie dann. »Manchmal ist es auch ein bißchen zu früh.«
Damals ahnte ich nicht, was sie damit meinte, aber heute weiß ich es. Sie wäre jetzt fast siebzig, würde sie noch leben. Paps wäre noch zwei Jahre älter.
Heutzutage kommt Weihnachten nicht in meine Wohnung, jedenfalls nicht mehr, seit Mary mich vor drei Monaten verlassen und Jenny mitgenommen hat. So was wie Weihnachten existiert nicht mehr, wenn man ganz allein ist mit vier Wänden und dem Staub, wenn Frau und Tochter irgendwo anders sind und vielleicht gerade lachen und sich köstlich amüsieren.
Als ich heute morgen die Augen öffnete und mir einfiel, daß heute Weihnachten war, bedeutete das lediglich einen
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