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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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nach Regel 36A ausgeschlossen werden sollte (»Jedes Mitglied, das ein anderes Mitglied in den Clubräumen verleumdet oder beleidigt« – usw.), verteidigte Raw sich schlaftrunken. Ich sage ›schlaftrunken‹, weil es so aussah, als ob jemand aus tiefem Schlaf erwache und plötzlich erkannten wir, daß wir uns in Gegenwart eines Menschen befanden, den wir besser auf unserer Seite wußten als auf der Gegenseite.
    »Ich werde Ihnen ganz genau sagen, warum ich Zaubern lernte«, sagte er. »Allerdings nur, falls Sie das wirklich wissen wollen. Ich fürchte, es ist eine recht lange Geschichte, und ich möchte nicht …«
    »Erzählen Sie! Erzählen Sie!« riefen alle sofort im Chor.
    »Also gut, wenn Sie darauf bestehen? Aber vielleicht sollten wir uns irgendwoanders hinsetzen.«
    »Im Rauchsalon?« schlug jemand vor, da aus dem Speisesaal alle Stühle entfernt worden waren, um dem kalten Büfett Platz zu schaffen.
    »Ich … äh … ich rauche nicht. Ich habe da eine Allergie …«
    »In der Bibliothek!« rief jemand anders, auch ein Nichtraucher, der eine Chance witterte, sich an den reichen Einmal-Gästen mit ihren teuren Zigarren zu rächen. Ich sah einen von denen genauer an und war dankbar dafür, zu sehen, daß er immer noch Schriftsteller genug war, um eine gut erzählte Geschichte dem Rauchen vorzuziehen. Er drückte sofort seine halbgerauchte Havanna aus.
    Also saßen wir fünf Minuten später unter den unversöhnlichen Blicken der Clubgründer aus dem 18. Jahrhundert, deren Porträts an den Wänden der Bibliothek hingen – wo das Rauchen absolut verboten ist – mit Raw im Mittelpunkt einer Gruppe aufmerksamer Zuhörer, ergänzt durch ein paar eher zögernde wie H.C. Waterman. Und hier ist die Geschichte, die er erzählte.
     
    Die Depression der achtziger Jahre ist schon die zweite, die ich erlebte. Ich bin neunundsechzig! Verzeihen Sie mir, falls Sie das schon aus meinem Buch wußten; aber ich habe nicht alle von Ihren Büchern gelesen, also habe ich auch kein Recht, anzunehmen, daß Sie meines gelesen haben, nicht wahr?
    Wie auch immer, ich schätzte mich glücklich, Mitte der dreißiger Jahre in die Polizei aufgenommen zu werden, nachdem ich die Schule mit vierzehn ohne Abschluß verlassen hatte. Ich konnte gerade lesen, schreiben und einige Zahlen addieren. Es machte mir lange Zeit auch nichts aus, daß ich nur ein einfacher Streifenpolizist war; ich hatte nie vor, Karriere zu machen. Deshalb sah ich mich auch immer nach Alternativen um. Sichere Jobs zum Aussuchen. Als Beamter gleich welcher Art war ich pensionsberechtigt. Und ich hatte zur Genüge erlebt, was mit einem alten Menschen ohne – tut mir leid. Aber es ist gerade ein solcher alter Mann ohne, von dem ich Ihnen erzählen will.
    Zu der Zeit arbeitete ich in einem Polizeirevier im West End, auf dem Stadtplan nicht zu weit von meiner Unterkunft in Stockwell entfernt, aber eine ganze Welt weg davon, wenn man … andere Dinge in Betracht zieht. Ich will damit sagen, wir patrouillierten Mayfair, Knightsbridge, Brompton Road, diese Art von Bezirk, wo man kaum von einer Depression Notiz nahm. Einmal zählte ich fünf Rolls Royces und zwei Packards und einen Hudson Terraplane in einem Umkreis von hundert Yards um die Bond Street. Aber das war erst nach der Zeit, an die ich denke.
    Das war dann wohl Mitte Dezember, ich bin nicht sicher, welches Jahr es war, aber das ist nicht so wichtig.
    In jenen Tagen war die Post schneller als heute, und sie wurde häufiger abgeholt und ausgeliefert, aber ansonsten ist vieles auch gleich geblieben. Eine Menge Leute arbeitslos, eine Menge anderer extrem reich, na, und wo die sich versammeln, finden sich auch die Bösewichte. Die Mengen der einkaufenden Menschen im West End waren ein Geschenk des Himmels für Taschendiebe und Ladendiebe, von Betrügern gar nicht zu sprechen, genau wie heute, und deswegen hat mich wohl an jenem Morgen mein Chefinspektor hereingerufen. Er sah aus wie die aktive Front eines Gewitters. Ich stand vor ihm und bebte, weil ich nicht wußte, weswegen ich gerügt werden sollte. Er konnte natürlich immer etwas finden … Ach ja. Ich hatte die Post erwähnt. In einem Moment werden Sie wissen, warum. »Rawlings«, bellte er. »Hier ist ein Sondereinsatz für Sie! Haben Sie einen manierlichen Anzug?«
    Tja, ich hatte einen, den ich mir für gewöhnlich für den Kirchgang aufhob oder um mit einer Freundin auszugehen – nicht daß ich große Chancen hatte, eine Freundin zu halten, solange die

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