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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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Verbrecher sorgsam einzuprägen, die ich vor Gericht sah … Entschuldigen Sie, ich komme vom Thema ab. Aber ich arbeitete so hart an diesem Aspekt meines Berufs, weil ich einen Fehler bei mir selbst sah und ihn korrigieren wollte. Jedenfalls registrierte ich, daß sein Name Harry Bland lauten sollte und daß er ein hagerer Mann mit schrecklich käsigem Gesicht war, bis auf helle rote Flecken an seinen Backenknochen. Er hustete schlimm und griff immer wieder in seine Jackentasche, um irgendwelche Pillen herauszuholen. Ich glaubte nicht, daß sie ihm sehr halfen. Das war damals, bevor es Antibiotika gab, wenn Sie sich erinnern, und Lungenschwindsucht war eine häufige Krankheit. Ein Onkel von mir war denselben Weg gegangen. Wenn Herr Bland hustete, versuchte ich zu erkennen, ob sein Taschentuch rot war, aber ich konnte immer nur kurz einen Blick auf das Weiß erhaschen, wenn er die Hand an den Mund führte.
    Tja, ich weiß nicht, ob ich über oder unter dem Durchschnitt lag bei dieser ersten Schicht, die ich in der Sortieranlage arbeitete. Ich weiß noch, daß ich nicht halb so gut war, wie ich gehofft hatte, aber ich schrieb das meiner inneren Beschäftigung mit diesem Herrn Bland zu. Auch er war nur eine Aushilfskraft, die man für den Weihnachtsbetrieb eingestellt hatte, aber er mußte unheimlich schnell gelernt haben. Außerdem hatte er außergewöhnliche Hände: lang und schmal und sehr genau im Ausführen von Arbeiten. Er verschwendete nie Zeit oder Mühe für überflüssige Bewegungen. Und ich war mir absolut sicher, daß ich ihn kannte! Doch er gab nie auch nur den kleinsten Hinweis darauf, daß auch er mich kannte.
    Nach zehn Stunden war ich – entschuldigen Sie – geschafft. Ich machte mich auf den Heimweg. Ich hätte zurück zum Revier gehen sollen und einen Bericht einreichen, aber ich erfand eine Ausrede, die ich am nächsten Morgen benützen wollte: Falls die Verbrecher mich beobachteten und mir nach der Arbeit folgten, wäre ich aufgeflogen und vermutlich hätte man mich erdrosselt auf einer Herrentoilette gefunden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Ausrede gewirkt hätte, aber jedenfalls redete ich mir das in meiner Erschöpfung ein.
    Ich war halt jung und begeisterungsfähig und außer meinem Gespräch mit den CID-Leuten über einer Tasse Tee stammte alles, was ich über die Arbeit eines Detektivs wußte, aus den samstäglichen Kinobesuchen.
    Also würgte ich eine Art Abendessen hinunter, machte den Fehler, eine Tasse Kaffee dazu zu trinken und legte mich in meinem finsteren kleinen Zimmer hin. Es war kalt, und diese Tatsache sowie die Wirkung des Kaffees verhinderten mein erhofftes Einschlafen. Statt dessen drehten meine Gedanken durch wie ein Motor im Leerlauf, und ich lag da und starrte bis Mitternacht in die Dunkelheit und grübelte.
    Und dann wußte ich es! Plötzlich setzte ich mich im Bett auf und sagte laut: »Natürlich! Kein Wunder, daß er mich nicht erkennt!« Das provozierte meinen Zimmernachbarn zu einem mürrischen An-die-Wand-Klopfen. Also legte ich mich wieder hin und – ich muß gestehen, ich konnte nicht anders, als zu lachen. Und schließlich nickte ich tatsächlich ein und schlief so fest, daß mein Wecker mich beinahe nicht zur rechten Zeit wachbekommen hätte.
    Der Chefsortierer wollte mich diesmal woanders hinschicken, aber ich bestand darauf, am gleichen Tisch zu arbeiten. Ich glaube, damals genoß ich zum ersten Mal das gefährlich erhebende Gefühl, Autorität über jemanden auszuüben, nicht, weil man klüger ist oder bedeutender, sondern weil man mehr weiß als der andere. Ich sagte ganz klar nein – ich löse Ihre Probleme, wenn Sie mich in Ruhe lassen, also ziehen Sie Leine!
    Es war genau eine Woche vor Weihnachten. Vielleicht entsprach mein Benehmen nicht dieser Periode des Liebe-deinen-Nächsten, aber so geschah es und es funktionierte.
    Und ich ging an denselben Tisch wie am Tag zuvor.
    Nur daß ich diesmal wußte, wonach ich suchen mußte, und natürlich fand ich es auch. Als wir die Arbeit einstellten und Frühstückspause machten, packten die Glücklicheren von uns Thermosflaschen voll heißem Tee aus, und wir anderen mußten uns mit einem belegten Brot oder ein paar Rosinenbrötchen und einem Schluck Wasser begnügen. Ich setzte mich absichtlich neben Herrn Bland. Er war verwirrt und machte sich vielleicht auch seine Gedanken, aber er war höflich und machte mir Platz. Als ich ziemlich sicher war, daß uns die anderen nicht zuhörten, beugte ich mich zu

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