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Friesenschnee

Titel: Friesenschnee
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Hamburger Schauspieltruppe schien tief in Jennys Herzen verankert zu sein, und ihr konnte er eine Bitte sowieso nicht abschlagen. Auch den Besuch dieser Vorstellung würde ihre Liebe aushalten.
    Zu lange wartete er jetzt schon geschniegelt und gebügelt, und so beschloss er ungeduldig, vor die Haustür zu gehen und noch ein wenig frische Luft zu schnappen. Kalt war es nicht, aber die sommerlichen Temperaturen gehörten endgültig der Vergangenheit an. Der Blätterwald um den Ravensberg wies bereits eine beachtliche Braunfärbung auf, und an einigen lichten Stellen schimmerte nach dem sommerlichen Versteckspiel der alte Wasserturm im fahlen Licht wieder durch. Auf dem gesamten Gelände war es dunkel, doch sicherlich würden die Scheinwerfer heute Abend noch angeworfen, um für die Besucher den Weg zur Aufführung auszuleuchten.
    Dem gewaltigen Backsteinbau war ein breiter Kranz aufgesetzt, in dem früher das Trinkwasser in luftiger Höhe auf dem höchsten Punkt der Landeshauptstadt gespeichert wurde.
    Auf dem flachen kegelförmigen Dach thronte der achteckige Dachreiter, der von einer Kupferhaube behütet wurde. Mit der darauf sitzenden Turmspitze wirkte der Aufsatz wie eine wilhelminische Pickelhaube. Vom Wasserturm aus ging es in alle vier Himmelsrichtungen nur noch bergab, denn dem Gefälle der Wasserleitungen folgend, wurden am Ende des 19. Jahrhunderts schachbrettartig die Straßen dieses Kieler Stadtteils angelegt. Beim Joggen war das oft anstrengend, denn die letzten Kilometer nach Hause ging es stets bergauf.
    Stuhrs Gedanken wurden jetzt von einem kleinen Kläffer abgelenkt, der mit fliegenden Ohren die Steinstufen zum Rundweg um den Wasserturm erstürmte und sofort wie von einem schwarzen Loch verschluckt wurde. Anscheinend funktionierten auch die Laternen am Rundweg nicht. Stuhr war froh, dort nachher nicht mit Jenny durch die Finsternis hindurchzumüssen, nicht nur wegen der vielen Tretminen, die manche Hundehalter nicht beseitigten. Umso erstaunlicher war, dass dem kleinen Hund sein Frauchen in das schwarze Loch folgte, denn selbst wenn alle Laternen brannten, war Stuhr dieser Weg abends immer schon unheimlich gewesen.
     
    Endlich nahte dieselnd ein Taxi, und wenig später stand Jenny in einem atemberaubenden schwarzen Kleid mit eleganten Schuhen vor ihm. Aufgeregt lief sie ihm entgegen und blieb kurz vor ihm stehen. »Küsschen, mein Schatz. Nun, magst du dein Mädchen auch leiden?«
    Stuhr nahm sie in die Arme und küsste sie leidenschaftlich. Jenny hatte Herz, konnte lachen und war insgesamt eine imposante Erscheinung. Trotz ihrer Haarfarbe war sie kein Blondchen, sondern eine reife, elegante Dame, die sich ihre Jugendlichkeit bewahrt hatte. Er strahlte sie an. »Ja, mein Schatz. Du bist schon eine tolle Frau.«
    Jenny hakte sich bei ihm ein, und ihrem strahlenden Gesichtsausdruck entnahm er zufrieden, dass er für sie nicht unwichtiger als ihr ehemaliges Ensemble war. Während sie gemeinsam die Straße überquerten, begann sie, von der mühseligen Anreise zu berichten. »Tut mir leid, Schatz, hier sind die Eintrittskarten. Äußerst ärgerlich, erst hatte dieser dumme Zug Verspätung, und dann schnappen mir die Mitreisenden die letzten Taxis auf dem Bahnhofsvorplatz weg. Dabei hatte ich gehofft, mit dir vor der Aufführung noch einmal in die Künstlergarderobe zu gehen und ihnen Erfolg zu wünschen. Du musst meine Truppe unbedingt kennenlernen: die Lollo, den Robert, den Patrick. Ach, einfach die ganze Rasselbande.«
    Auf dem restlichen kurzen Weg zum Wasserturm schwärmte sie unentwegt weiter von ihren Schauspielfreunden. Besonders schien es ihr ein gewisser Robert Halbedel angetan zu haben, der ihren Aussagen zufolge offenbar von Hamlet bis Mata Hari jede Rolle perfekt geben konnte, geschlechterneutral sozusagen, aber das sei sowieso der neueste Trend auf den Alternativbühnen.
    Stuhr schloss daraus, dass dieser Halbedel vermutlich aus Geldmangel alles spielen musste, aber das behielt er lieber für sich. Er musste Jenny jetzt vorsichtig über die Straße führen, damit sie mit ihren schmalen Absätzen nicht zwischen die Sandfugen der Pflastersteine geriet. Sie gelangten zu einer kleinen, gepflasterten Auffahrt, die auf das abgezäunte Betriebsgelände des Wasserturms führte. In der Dunkelheit war eine Beschilderung nicht zu erkennen.
    Jenny hakte sich fest ein. »Wo geht es denn weiter hier? Man sieht ja kaum die Hand vor Augen.«
    »Ja, die haben vergessen, die Außenbeleuchtung einzuschalten.
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