Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frevelopfer

Frevelopfer

Titel: Frevelopfer
Autoren: Arnaldur Indriðason
Vom Netzwerk:
an den Hängen oberhalb des Stadtzentrums ausgebreitet hatte. Die Häuser stammten aus unterschiedlichen Zeiten und spiegelten ein Jahrhundert Reykjavíker Architekturgeschichte wider; es gab sowohl bescheidene Arbeiterunterkünfte als auch Villen von Unternehmern. Arbeitende Bevölkerung und Oberklasse hatten hier immer einträchtig nebeneinandergewohnt. Jetzt lockte das Viertel junge Leute an, die sich aus Protest gegen die sich in alle Richtungen ausdehnenden Außenviertel lieber im Herzen der Stadt einnisteten. Künstler und alle möglichen modisch gekleideten Menschen zogen in die Häuser ein, und die Superreichen kauften die alten Villen der Großimporteure. Die Anwohner schienen die Postleitzahl des Viertels wie eine Identifikationsmarke vor sich herzutragen: 101 Reykjavík.
    Der Leiter der Spurensicherung kam um die Ecke des Hauses und rief Elínborg zu sich. Er schärfte ihr ein, vorsichtig zu sein und nichts anzurühren.
    »Es sieht ziemlich scheußlich aus«, sagte er.
    »Tatsächlich?«
    »Ein bisschen wie in einem Schlachthaus.«
    Die Wohnung hatte einen separaten Eingang in dem Teil des Gartens, den man von der Straße nicht einsehen konnte. Sie befand sich zu ebener Erde, und über einen plattenbelegten Weg, der hinter das Haus führte, gelangte man zur Eingangstür. Das Erste, was Elínborg erblickte, als sie die Wohnung betrat, war die Leiche eines jungen Mannes, der auf dem Boden im Wohnzimmer lag, seine Hose war heruntergelassen, und er war mit nichts anderem bekleidet als mit einem blutigen T-Shirt, auf dem »San Francisco« stand. Aus dem F lugte eine kleine Blume hervor.

Zwei
    Auf dem Heimweg fuhr Elínborg bei einem Supermarkt vorbei. Sie nahm sich normalerweise ausreichend Zeit für den Einkauf und vermied die Billigmärkte, da es dort nur wenig Auswahl gab und die Qualität dem Preis entsprach. Doch heute hatte sie es eilig. Ihre beiden Jungen hatten sie angerufen und gefragt, ob sie wie versprochen ein Abendessen für sie kochen würde. Sie hatte gesagt, dass es dabei bliebe, aber es würde ein wenig später werden. Sie versuchte, jeden Abend eine ordentliche Mahlzeit auf den Tisch zu bringen, damit sie mit ihrer Familie zusammensitzen und Zeit mit ihr verbringen konnte, und sei es nur für die Viertelstunde, die die Kinder dazu brauchten, um das Essen in sich hineinzustopfen. Wenn sie nicht kochte, kauften sich die Jungs nur irgendwelche teuren Fast-Food-Produkte für das Geld, das sie sich mit ihren Sommerjobs verdient hatten, oder sie brachten ihren Vater dazu, das für sie zu tun. Teddi, ihr Mann, hatte eine Autowerkstatt und war, was das Kochen betraf, ein hoffnungsloser Fall. Er konnte Haferbrei machen und Spiegeleier braten, mehr aber auch nicht. Dafür packte er aber nach dem Essen mit an und half auch ansonsten im Haushalt. Elínborg hielt Ausschau nach etwas, was nicht viel Zeit in Anspruch nehmen würde, entdeckte akzeptables Fischhack an der Theke, schnappte sich eine Packung Reis, ein paar Zwiebeln und außerdem noch das ein oder andere, was im Haushalt fehlte. Nach zehn Minuten stieg sie wieder in ihr Auto.
    Eine Stunde später saßen sie am Küchentisch. Ihr älterer Sohn nörgelte an den Fischfrikadellen herum und wies darauf hin, dass es am Abend vorher ebenfalls Fisch gegeben hatte. Er mochte keine Zwiebeln und schob sie sorgfältig an den Tellerrand. Der jüngere Sohn schlug Teddi nach und aß alles, was ihm vorgesetzt wurde. Ihre Tochter Theodóra war die Jüngste. Sie hatte angerufen und gefragt, ob sie bei ihrer Freundin zu Abend essen dürfte. Die beiden machten zusammen Schulaufgaben.
    »Gibt’s nur die Sojasoße?«, fragte ihr Ältester. Er hieß Valþór, war siebzehn und hatte gerade auf eine weiterführende Schule gewechselt. Er wusste genau, was er werden wollte, und hatte nach Ende der zehnjährigen Grundschulpflicht das Handelsgymnasium gewählt. Elínborg glaubte zu wissen, dass er eine Freundin hatte, auch wenn er selbst nichts durchblicken ließ. Er erzählte nie etwas über sich. Es hatte jedoch keiner besonderen Nachforschungen bedurft, um das herauszufinden. Als sie vor einiger Zeit seine Hose in die Waschmaschine stecken wollte, hatte sie ein Kondom in der Hosentasche gefunden. Sie hatte ihn nicht darauf angesprochen, denn so war der Gang des Lebens. Letzten Endes war sie nur froh gewesen, dass er so vernünftig war. Es war ihr nie wirklich gelungen, sein Vertrauen zu gewinnen. Ihre Beziehung war ziemlich angespannt. Der Junge war schon immer sehr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher