Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)

Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)

Titel: Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
Vom Netzwerk:
der Zigarre ab und begann mit der Prozedur des Anzündens. Das war für ihn immer der schönste Moment beim Zigarrerauchen. Wenn die ersten Wölkchen hochsteigen, wenn der würzige Duft sich langsam im Zimmer verbreitet, viel angenehmer als Zigarettenqualm, das gab er gern zu.
    Das Ding zog allerdings nicht gut. Womöglich war der Tabak zu trocken. Ein Humidor, in dem Zigarren immer schön feucht und wohltemperiert bleiben, das wäre mal ein Geschenk, über das er sich wirklich freuen würde. Warum war eigentlich nie eines seiner Kinder auf diese Idee gekommen?
    Gudrun starrte ihn an. Dann riss sie ihm die Zigarre aus dem Mund. Sie hatte rote Flecken im Gesicht. »Papa«, schrie Gudrun, »das kannst du echt nicht machen.« Rainers Vater mochte es nicht, wenn man ihn »Papa« nannte. Aber er schwieg, um des lieben Friedens willen.
    Rainers Mutter dagegen sagte: »Wie wäre es, wenn du deinen Schwiegervater mit seinem Namen anreden würdest? Oder hast du den vergessen?«
    Gudrun sagte: »Siehst du denn nicht, dass er versucht, eines von den Grissini zu rauchen? Rainer, tu doch was!«
    Rainers Vater bemerkte, dass er tatsächlich eines dieser länglichen, hellbraunen Knabberstäbchen in der Hand hielt, die er sich aus dem Glas in der Mitte des Tisches herausgefischt haben musste, in einem unkonzentrierten Moment. Das eine Ende des Stäbchens war schwarz vom Ruß des Feuerzeugs, er selbst saugte und lutschte am anderen Ende. Die Dinger stammten aus Italien, es gab einen italienischen Namen dafür, der ihm nicht einfallen wollte, irgendwas mit G. »Ich sehe ein G«, sagte Rainers Vater.
    Jemand nahm ihm das Stäbchen aus der Hand. Alle redeten durcheinander. Da bekam er sowieso nichts mit.
    Rainers Vater dachte über seinen Namen nach. Na, den kannte er immerhin noch. Er hatte zwei Vornamen, Heinrich und Tobias. Einer seiner Enkel hieß, wie er sich dunkel erinnerte, genauso. Sein eigener Rufname war aber Heinrich, oder, für alte Freunde, Hein. Das wusste er genau. Wieso hieß sein Enkel dann nicht Heinrich? Kein Mensch hatte Rainers Vater jemals »Tobias« genannt. Tobias klang schicker und moderner als Heinrich, das war der Grund. Ihm hatten sie erzählt, dass der Enkel nach ihm benannt wird, und erwarteten Dankbarkeit oder Rührung. Aber den Mut, das Kind »Heinrich« zu nennen, diesen Mut besaßen sie nicht.
    Rainers Vater nahm die Rotweinflasche und schenkte, mit leicht zitternder Hand, seiner Tochter ein wenig nach. Rieke. Stammte der Spitzname Rapunzel von ihm, war er das gewesen? Er erinnerte sich nicht mehr. Jetzt bin ich so alt, dachte Riekes Vater, ich könnte in meinen Erinnerungen leben, ich habe doch ganz bestimmt viel erlebt. Aber die Erinnerungen sind weg. Nein, nicht direkt weg. Ich habe keine Kontrolle über sie, die kommen und gehen, wie sie wollen. Wenn ich mich an etwas Bestimmtes erinnern will, Fehlanzeige. Wenn ich aber im Hier und Jetzt etwas Bestimmtes tun möchte, dann hängen sich die Erinnerungen plötzlich wie kleine Kobolde an meine Rockschöße, dann zwitschern und tuscheln die und lassen mich zu keinem klaren Gedanken kommen mit ihrem Getuschel.
    Ein Mann kam die Treppe herunter, ein Mann im Anzug, in teuren Schuhen. Tobias war bei ihm. Gudrun sprang auf, was machen Sie hier, wo kommen Sie her, Hände weg von meinem Sohn, Sie wollen wir hier nicht haben. Rainer legte den Arm um Gudrun. Rapunzel leerte ihr Glas, zupfte ihre Federboa zurecht und fragte: »Was verschafft uns die Ehre, großer Meister?«
    Der Mann sagte: »Ich heiße Holz. Ich bin in einer schwierigen Situation und brauche Hilfe.«



Dann erzählte er eine Geschichte, von der Rainers Vater nur Bruchstücke mitbekam. Im Kern lief es wohl darauf hinaus, dass sie sich vertragen sollten und dass ab sofort Weihnachtsfrieden herrschen soll. Dies sei seine Mission, und wenn er diese Mission erfülle, dann werde er zur Belohnung seine Tochter wiedersehen und auch eine Art Familie bekommen. Es klinge verrückt, aber sie sollten ihm bitte trotzdem glauben, weil heute Weihnachten sei.
    »Den Trick kenne ich von den Typen, die an der Haustür für Zeitschriftenabos werben«, sagte Rapunzel. »Abonnieren Sie für ein Jahr das Goldene Blatt , und ich darf zur Belohnung in Yale Philosophie studieren.«
    »Vielleicht ist er ein Engel«, sagte Sarah.
    »Oder ein Alien«, sagte Vinzenz.
    »Er ist eher eine Art Blauhelmsoldat«, sagte Tobias. »Friedensmission in Krisengebieten.«
    »Wir verstehen uns bestens«, sagte Rainers Mutter. »Es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher