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Fremdes Licht

Fremdes Licht

Titel: Fremdes Licht
Autoren: Nancy Kress
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flüsterte Kelovar heiser.
    »Laß mich runter!« sagte Ayrid. Sie wand sich in
seinen Armen, konnte aber den versteinerten Griff nicht
aufbrechen.
    Das Loch wurde kleiner.
    Ayrid stemmte sich von ihm ab, versuchte sich abzuwälzen.
Doch Kelovar mußte dasselbe gesehen haben wie sie: Menschen in
durchsichtigen Käfigen, nur flüchtig zu erkennen gewesen
durch das schrumpfende Loch in der Mauer. Sie spürte den Ruck,
der durch seinen Körper ging. Er weiß, was Qualen sind, fuhr es ihr durch den Kopf. Kelovar duckte sich und war mit einem
Satz durch das Maul, knapp bevor es zuschnappte.

 
70
     
    »… Ende der Gleichungen.«
    Das Bibliothekshirn wechselte die Diktion; eben hatte es
Gewißheiten vermittelt, jetzt versuchte es die Fakten in einen
wahrscheinlichen Zusammenhang zu bringen.
    »Erste Hypothese: Als wir R’Frow gebaut haben, waren wir
der Meinung, interne Gewalt schließe jedwedes
Zugehörigkeitsgefühl zur Spezies aus. Dennoch haben
Menschen in R’Frow zeitweise kooperiert; dennoch haben Menschen
in R’Frow zeitweise in Harmonie gesungen.
    Zweite Hypothese: Wir waren der Meinung, die Menschen würden
die Gruppen, die sie ›Jeliten‹ und ›Delysier‹
nennen, für richtige Spezies halten. Dennoch haben Menschen
Angehörige ihrer eigenen vermeintlichen Spezies
getötet.
    Dritte Hypothese: Die Menschen verhalten sich wie Angehörige
dieser Pseudospezies. Dennoch sind diese Pseudospezies keine
verläßlichen Konstanten.«
    Es entstand eine lange Pause. Die Geds, die zuhörten –
nicht alle waren dazu imstande, die einen standen noch unter Schock,
andere kümmerten sich um die Geschockten und wieder andere
rangen mit ihrem genetisch bedingten Ekel – fanden, daß
das Bibliothekshirn noch nie eine so lange Pause eingelegt hatte. Es
war dabei, die Fakten in einen radikal neuen Zusammenhang zu bringen,
womit es hart an die Grenzen seiner Fähigkeiten stieß.
    »Die Menschen verhalten sich wie Angehörige dieser
Pseudospezies, aber diese Pseudospezies sind keine
verläßlichen Konstanten. So hat die Jelitin SaSa dem
Riesen geholfen, der nicht ihrer Pseudospezies angehörte. Die
Delysierin Ayrid hat der Jelitin SaSa und dem Riesen geholfen. Die
Jelitin Belasir hat dem Delysier Khalid geholfen, einen Jeliten zu
töten, mit dem sie in Harmonie gesungen hatte. Die Jelitin
Jehanna hat Gewalt unterbunden, die die Jeliten Salah und Mahjoub an
der Delysierin Ayrid verübten. Der Delysier Kelovar hat auf
Geheiß der Jelitin Belasir Gewalt an diesen beiden Jeliten
verübt. Der Jelite Dahar hat der Delysierin Ayrid und der
Jelitin SaSa medizinischen Beistand geleistet. Die Jeliten Dahar und
Lahab haben in der Unterrichtshalle mit den Delysiern Tey, Krijin,
Ilabor und Ayrid in Harmonie gesungen. Der Delysier
Khalid…«

 
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    Grax beobachtete Dahar und Lahab. Lahab gab einen leisen Laut des
Schreckens von sich, und Dahar reagierte mit barschen Worten. Lahab
nickte und hielt den Mund. Dahars Worte hatten weder Ermutigung noch
Trost gespendet.
    Jeder einzelne von ihnen war kaum mehr als ein Tier.
    Und er selbst nicht minder, dachte Grax unter dem Andrang seiner
Pheromone. Verbitterung, Abscheu, Scham, Verlangen – derart
widersprüchliche Gerüche würden ihn über kurz
oder lang in den Bioschock stürzen. Er roch nur sich selbst, und
in seiner Verstörtheit kam ihm der Gedanke, daß es gut
war, sich selbst zu riechen: ein Gedanke so fremd, daß Grax ihn
nicht weiterspann. Und doch nicht so fremd wie der andere, jener
widerwärtige, den er eben jetzt verfolgte: daß
nämlich mathematisch-logische Intelligenz womöglich
wichtiger war als die Zugehörigkeit zu einer Spezies, wichtiger
als Solidarität.
    Bis zu diesem verwegenen Projekt auf Quom war es undenkbar
gewesen, Intelligenz und Solidarität voneinander zu trennen.
    Das war die größte aller moralischen Verfehlungen. Es
gab keine grammatischen Verknüpfungen, sie zu beschreiben, keine
Pheromone, die ihr gerecht wurden, als diese stinkende Schwemme aus
Furcht und Sehnsucht und Widerwillen, die er eben jetzt ausschied.
Angesichts dessen, was er vorhatte, vorhatte mit einem Tier…
    Der Austausch der sauerstoffhaltigen Menschenatmosphäre gegen
richtige Gedluft war abgeschlossen. Grax rückte näher an
Dahar heran, entsiegelte seinen Helm und nahm ihn ab. Er atmete tief
ein.
    Aber es war zu spät. Die einzigen Pheromone, die er riechen
konnte, waren seine eigenen. Keine Spur mehr von Dahars
Pheromonen.

 
72
     
    »… Die Jelitin Jehanna hat vergeblich
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