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Fremd küssen. Roman

Fremd küssen. Roman

Titel: Fremd küssen. Roman
Autoren: Steffi von Wolff
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vor ihm zurück und hob abwehrend beide Hände. »Nicht!«, rief der Liebhaber. Michael lief desorientiert weiter rückwärts.
    »Halt!«, kam es nun auch von der Sopranistin. Michael hörte auf niemanden, stürzte rückwärts in den Orchestergraben und begrub drei Cellospieler unter sich. Wir saßen mit offenen Mündern in unserer Reihe sieben. Michael schrie laut auf, offensichtlich hatte er sich verletzt. Gero und ich stürzten nach vorne, Susanne fing laut an zu heulen. Den Rest des Abends verbrachten wir dann alle im Krankenhaus. Michael musste operiert werden, er hatte sich das Wadenbein gebrochen. Seitdem waren wir nie mehr zusammen in der Oper.
     
    »Was ist?«, frage ich Susanne mit normaler Stimme. »Bitte, Carolin«, sagt sie. »Michael fliegt morgen zu einem Kongress
    nach London und hat keinen einzigen Anzug mehr. Er behauptet, ICH hätte sie weggeworfen, ja als ob ich Anzüge wegwerfen würde! Ich glaube eher, dass er sie mal in einer klaren Minute in die Reinigung gebracht hat und den Zettel verschlampt hat. Natürlich weiß Michael heute nicht mehr, in WELCHE Reinigung er sie gebracht hat, ganz zu schweigen davon, dass er nie zugeben würde, sie jemals in eine Reinigung gebracht zu haben. Ich weiß ja auch nicht. Ich mache den Schrank auf und kein Anzug hängt darin. Vielleicht hat er sie ja auch jemandem geschenkt, der geklingelt und nach dem Weg gefragt hat!« Ich seufze. »Und ich soll jetzt mit Michael einen Anzug kaufen gehen oder was?«, nehme ich Susanne die Frage vorweg.
    »Danke!«, sagt sie erleichtert. »Du bist wie immer ein Schatz! Kannst du um drei hier sein?«
    Na klar bin ich um drei Uhr da. Mit Michael einen Anzug kaufen gehen. Toll. Das kann was geben. Lieber würde ich mit hyperaktiven Drillingen alleine ins Phantasialand fahren. Oder eine Woche lang freiwillig öffentliche Toiletten putzen. Um zwei ruft Susanne mich wieder an, um mir zu sagen, dass ich Michael in der Klinik abholen soll. Das wird ja immer schöner. Michael ist Pathologe. Ich habe ihn schon mal mit Susanne abgeholt, da hat er mir unbedingt seinen Arbeitsplatz zeigen wollen. Wir fuhren mit dem Aufzug ins Kellergeschoss, und als die Tür des Fahrstuhls aufging, schlug mir ein entsetzlicher Geruch von Verwesung und Formaldehyd entgegen. Wir gingen in einen Raum, in dem ungefähr 50 Studenten an 50 nackten Leichen herumschnippelten. Mir wurde schlecht, aber Michael zwang mich, zu »seiner Leiche« zu gehen, auf die er ganz besonders stolz war. Er zeigte mir die Leber und die Milz und hielt mir zur Krönung wie Hannibal Lecter das Herz des Mannes unter die Nase.
    »Infarkt!«, sagte er theatralisch. »Sehe ich auf einen Blick. Hier, die geplatzten Arterien. Ging ganz schnell!« »Toll!«, würgte ich hervor.
    »Interessiert es dich?« Michael war ganz aufgeregt. »Ich kann dir auch noch Nummer 24 zeigen, die hat ein Raucherbein!« »Nein danke!«, brachte ich nur noch hervor. Seitdem habe ich bei jeder Zigarette Leichen vor den Augen.
    Punkt 15 Uhr stehe ich, immer noch verkatert, vor dem Kiosk im Krankenhaus, in dem Michael arbeitet. Er kommt um halb vier. Ich winke, aber er rennt an mir vorbei. Was sonst. Ich laufe ihm hinterher, rufe »Michael, Michael«, und endlich bleibt er stehen. »Carolin! Was machst du denn hier?«
    Ich erkläre ihm, dass wir jetzt zusammen zu Hertelhuber gehen und einen Anzug kaufen, da er ja zu einem Kongress muss. Verwirrt blickt er mich an, folgt mir aber brav zum Auto. Innerlich verfluche ich Susanne.
»Das kostet dich zwei Essen im Rimini«
, denke ich grimmig. Wir fahren los und kaufen den Anzug. Es ist eine Katastrophe. Man könnte meinen, Michael sei farbenblind. Er besteht darauf, eine nachtblaue Satinhose zu einem karierten Oxfordsakko mit Lederflicken an den
    Ellbogen anzuziehen. Der Verkäufer und ich reden mit Engelszungen auf ihn ein, aber er stampft wie ein trotziger Junge mit dem Fuß auf und behauptet, wir hätten keinen Geschmack. Um 18 Uhr verlassen wir das Geschäft. Ich bin fix und fertig, habe Michael aber dazu bringen können, eine zweiteilige Kombination zu kaufen. Dafür muss ich ihm versprechen, Susanne nicht zu erzählen, dass er seine Kreditkarte verschlampt hat. Das stellten wir nämlich gegen Ladenschluss fest, als der Verkäufer entnervt fragte, ob wir bar oder mit Karte oder überhaupt zu zahlen gedenken. Ich musste den Zweiteiler letztendlich bezahlen und bin total wütend. Michael behauptet auf der ganzen Heimfahrt, dass Susanne oder einer seiner Studenten
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