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Fremd küssen. Roman

Fremd küssen. Roman

Titel: Fremd küssen. Roman
Autoren: Steffi von Wolff
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wiederum hätte zur Folge gehabt, dass das Licht von den Gläsern der Vitrine aus ganz plötzlich direkt mitten in Richards Gesicht gestrahlt hätte.
    Er habe gespürt, wie sich in Sekundenschnelle eine Brandblase auf seiner linken Wange gebildet hätte, und habe dann, um größeres Unheil zu verhindern, schnell auf sichtbare Art und Weise für Abhilfe gesorgt. Es ist zwar keine Brandblase zu sehen, aber ich gehe nicht weiter auf das Thema ein. Meine schönen Gläser.
    »’ch kauf dir neue. Vers-prech’s dir«, lallt Richard. Egal. Ich will nur saufen.
    Ich weiß ja auch nicht, was mit mir los ist. Alles geht schief. Ich komme mir wie eine Versagerin vor, seit ich denken kann. Das Sprichwort »zwei linke Hände haben« passt zu mir wie der Deckel auf den Topf. Mein erstes bewusstes traumatisches Erlebnis hatte ich mit sechs Jahren. Es waren die letzten Sommerferien vor Schulbeginn, ich war bei meinen Großeltern, und vor mir und den Nachbarskindern lag ein traumhaft langes Wochenende. Wir wollten zelten und ein Baumhaus bauen. Wir bauten erst die Zelte auf und dann das Baumhaus. Da ja alles geheim war, durfte niemand außer uns wissen, wo sich das Baumhaus befand. Stundenlang kletterten wir die Holzleiter von Holgers Vater rauf und runter, um Bretter und Decken zu transportieren. Die Jungs nagelten unbeholfen alles in der Krone einer ungefähr siebenhundert Jahre alten und acht Meter hohen Linde fest und wir Mädels versuchten, mehr schlecht als recht ein Heim zu schaffen. Es war ein herrlicher Samstagnachmittag, die Sonne brannte heiß und wir waren einfach nur glücklich. Und als wir dann endlich die letzten Bretter festgenagelt hatten und alle Decken und Kissen oben waren, jubilierten wir, denn wir mussten jetzt nur noch einmal runter, um die Wasserflaschen und die von den Eltern liebevoll gepackten Picknickkörbe hochzuholen. Ich hatte, wie alle anderen auch, schrecklichen Durst und wollte unbedingt als Erste die Leiter runterklettern. Dummerweise verhakte sich mein linker Fuß an einer Sprosse, die Leiter rutschte weg, kippte nach hinten um und landete auf dem Boden, direkt neben unseren Wasserflaschen und Picknickkörben. Da saßen wir dann in unserem selbst gebauten Baumhaus in der Mittagshitze und heulten und hatten Durst und Hunger und kein Erwachsener wusste, wo wir waren. Die anderen gaben mir natürlich die Schuld und behaupteten, dass wir nun wegen mir alle sterben müssten. Die 12 -jährige Veronika aus der Bodestraße 12 beschrieb uns detailgetreu, wie man nach hundert Jahren unsere ineinander verkeilten Skelette in dem heruntergekommenen, vermoderten Baumhaus finden würde, was wir alle mit entsetztem Aufheulen quittierten. Jahre später wurde mir klar, dass sie schlicht aus dem »Glöckner von Notre-Dame« zitiert hat. Seitdem habe ich Angst vor der Szene, in der Gina Lollobrigida und Anthony Quinn skelettiert vor der Kamera liegen, und schalte immer vorher aus. Wie dem auch sei, wir sind nicht gestorben, gegen 21 Uhr fanden uns die Väter von Rolf und Jan und mein Opa, und ich war schrecklich froh, dass sie nicht erst um 22 Uhr gekommen waren, denn es bildete sich in dem Baumhaus eine Art Ku-Klux-Klan gegen mich, in dem beschlossen wurde, dass ich genau um diese Zeit aus dem Baumhaus gestoßen werden sollte, wenn bis dahin keine Hilfe in Sicht war. Wir bekamen alle großen Ärger und durften keine Baumhäuser mehr bauen. Und kein Nachbarskind wollte an diesem Wochenende mehr mit mir spielen. Tja, so sind die Geschichten aus meinem Leben.
    Gegen drei Uhr morgens bitte ich Richard zu gehen. Wir haben allen Alkohol getrunken, der in meiner und in Richards Wohnung zu finden war. Richard will nicht gehen. Dauernd behauptet er, mir unbedingt etwas sagen zu müssen. Er kann es mir aber angeblich nur sagen, wenn er eine bestimmte Promillegrenze überschritten hat. Ich frage mich, welche Grenze wir noch überschreiten könnten, und werde langsam wirklich müde. Außerdem muss ich in genau sechs Stunden in der Redaktion sein und weiß nicht, wie ich das alles packen soll. Richard hat gut reden. Er ist Krankenpfleger und hat, weil er nur nachts arbeitet (die Sonne, die Sonne), immer mal wieder »sonderfrei«. So auch heute und die nächsten drei Tage.
    »Rischard«, nuschle ich, »ich muss ins Bedd. Bidde geh. Wir könn doch ein andermal weidermachn!«
    Richard steht auf und torkelt in mein Schlafzimmer. Ich bin schlagartig nüchtern. Ist es das, was er mir sagen muss? Findet er mich sexuell attraktiv und
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