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Fremd fischen

Fremd fischen

Titel: Fremd fischen
Autoren: Emily Giffin
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keineswegs in der Gefahrenzone. Ich hatte jede Menge Zeit. Bis ich ungefähr siebenundzwanzig war und schon lange nicht mehr nach dem Ausweis gefragt worden war und staunend zur Kenntnis nahm, dass die Jahre immer schneller vergingen (was mich an den alljährlichen Monolog meiner Mutter beim Auspacken der Weihnachtsdekoration erinnerte) und dass dabei Falten und vereinzelte graue Haare auftauchten. Mit
neunundzwanzig setzte das wahre Grauen ein, und mir wurde klar, dass ich in vielerlei Hinsicht ebenso dreißig sein könnte. Aber es nicht war. Ich konnte nämlich immerhin sagen, dass ich in den Zwanzigern war. So hatte ich noch etwas mit College-Studenten gemeinsam.
    Ich merkte, dass dreißig nur eine Zahl ist, dass man immer so alt ist, wie man sich fühlt, und so weiter. Ich erkannte, dass dreißig im Großen und Ganzen immer noch jung ist. Aber es ist nicht mehr so jung. Die fruchtbarste, allerbeste Zeit zum Kinderkriegen ist dann zum Beispiel vorbei. Man ist zu alt, um noch anzufangen, für eine olympische Medaille zu trainieren. Im besten Fall – angenommen, man stirbt an Altersschwäche – hat man schon ein Drittel der Wegstrecke hinter sich. Und deshalb hocke ich zu meinem Geburtstag unwillkürlich mit leisem Unbehagen auf der Kante eines kastanienbraunen Sofas in einer dunklen Barlounge an der Upper West Side. Die Überraschungsparty wird von Darcy veranstaltet, die immer noch meine beste Freundin ist.
    Morgen ist der Sonntag, den ich zum ersten Mal als Sechstklässlerin beim Spielen mit unserem Telefonbuch ins Auge gefasst habe. Nach dieser Nacht werden meine Zwanziger vorbei sein: Das Kapitel ist für immer abgeschlossen. Das Gefühl, das ich dabei habe, erinnert mich an Silvester, wenn der Countdown läuft und ich nicht weiß, ob ich mir meine Kamera schnappen oder einfach den Augenblick leben soll. Meistens schnappe ich mir dann die Kamera und bereue es hinterher, wenn das Bild nichts geworden ist. Ich bin mächtig enttäuscht und denke mir, dass die Nacht mehr Spaß gemacht hätte, wenn sie nicht ganz so viel bedeutete, wenn ich nicht gezwungen wäre zu analysieren,
was ich gemacht habe und wohin ich jetzt aufbreche.
    Wie Silvester bedeutet die Nacht heute ein Ende und einen Anfang. Ich kann Enden und Anfänge nicht leiden. Ich würde es immer vorziehen, irgendwo in der Mitte herumzudümpeln. Das Schlimmste an diesem speziellen Ende (meiner Jugend) und Anfang (des mittleren Alters) besteht darin, dass mir zum ersten Mal im Leben klar wird: Ich weiß nicht, wohin die Reise geht. Meine Wünsche sind einfach. Ich will einen Job, der mir gefällt, und einen Typen, den ich liebe. Und am Vorabend meines dreißigsten Geburtstags muss ich der Tatsache ins Auge sehen, dass ich in dieser Hinsicht null von zwei Punkten zu verzeichnen habe.
    Erstens: Ich bin Anwältin in einer großen New Yorker Firma. Das bedeutet per definitionem, dass es mir elend geht. Anwältin zu sein, ist einfach nicht so fetzig, wie es immer dargestellt wird – kein bisschen wie in L. A. Law , der Fernsehserie, die Anfang der neunziger Jahre die Anmeldungen zum Jurastudium wie eine Rakete nach oben schnellen ließ. Ich absolviere zermürbend lange Arbeitstage für einen niederträchtigen, anal fixierten Seniorpartner und bekomme hauptsächlich öde Aufgaben. Zudem beginnt irgendwann eine Art von Hass auf das, womit man seinen Lebensunterhalt verdient, an einem zu nagen. Also habe ich mir das Mantra der Juniorpartnerin eingeprägt: Ich hasse meinen Job, und ich werde bald kündigen. Sobald ich meine Kredite abbezahlt habe. Sobald ich den Bonus für das nächste Jahr kassiert habe. Sobald mir ein Job eingefallen ist, mit dem ich meine Miete bezahlen kann. Oder jemanden gefunden habe, der sie für mich bezahlt.
    Was mich zu Punkt zwei bringt: Ich bin allein in
einer Millionenstadt. Ich habe jede Menge Freunde, wie das stattliche Aufgebot heute Abend beweist. Freunde zum Inline-Skaten. Freunde, mit denen ich im Sommer in die Hamptons fahren kann. Freunde, mit denen ich mich donnerstagabends nach der Arbeit auf ein, zwei oder drei Drinks treffen kann. Und ich habe Darcy, meine beste Freundin aus der alten Heimat, auf die all das zutrifft. Aber jeder weiß, dass Freunde allein nicht reichen, auch wenn ich das oft behaupte, um bei meinen verheirateten und verlobten Freundinnen das Gesicht zu wahren. Ich hatte nicht vor, allein zu sein, wenn ich dreißig bin, nicht mal, wenn ich Anfang dreißig bin. Ich wollte mittlerweile verheiratet sein, und
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