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Fremd fischen

Fremd fischen

Titel: Fremd fischen
Autoren: Emily Giffin
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Road . Ich werfe einen Blick zu Dex hinüber, der anscheinend tief in Gedanken versunken ist. Plötzlich schaut er zu mir herüber und winkt mich mit beklopptem Grinsen zu sich. Ich gehe zurück und setze mich zu ihm. Er legt den Arm um mich, und eine Woge von Gefühlen verschlägt mir den Atem.
    « Hey du», sagt er, und sein Ton verrät, dass er genau weiß, was ich fühle.
    « Hey», sage ich im gleichen Ton.
    Wir sind eins von den Paaren, bei denen ich immer gedacht habe, dass ich etwas so Besonderes niemals selbst aus der Innenperspektive erleben würde, wenn ich sie so sah. Ich habe mich dann immer damit beschwichtigt, dass es wahrscheinlich besser aussieht, als es in Wirklichkeit ist. Ich bin froh, dass ich mich geirrt habe.
    Ich lächle Dex an, und mein Blick bleibt an einer winzigen Lücke in seiner linken Augenbraue hängen. Da ist ein kahler Fleck, wo vielleicht drei oder vier Härchen fehlen.
    « Was ist da passiert?»Ich lege eine Fingerspitze sanft auf die Stelle.
    « Oh. Das. Das ist eine Narbe. Ich bin beim Hockeyspielen hingefallen, als ich klein war. Da ist nie wieder Haar gewachsen.»
    Ich frage mich, warum ich diese Narbe noch nie bemerkt habe. Und dass er Hockey gespielt hat, habe ich
auch nicht gewusst. Es gibt so vieles, was ich immer noch nicht über ihn weiß. Aber jetzt haben wir Zeit. Wir haben endlos Zeit. Ich erforsche sein Gesicht nach weiteren Entdeckungen, bis er befangen lacht. Ich lache auch, und dann verblasst unser Lächeln einträchtig. In entspanntem Schweigen trinken wir unser Newcastle.
    « Dex?», sage ich nach einer ganzen Weile.
    « Ja?»
    « Vermisst du sie?»
    « Nein», sagt er mit Entschiedenheit. Sein Atem ist warm an meinem Ohr.«Ich bin bei dir. Nein.»
    Ich weiß, dass er die Wahrheit sagt.
    « Du bist heute Abend überhaupt nicht traurig?»
    « Kein bisschen.»Er küsst meine Schläfe.«Ich hab im Moment ganz unterschiedliche Gefühle. Aber traurig bin ich nicht.»
    « Gut», sage ich.«Ich bin froh.»
    « Und wie geht’s dir ? Vermisst du sie?», fragt er.
    Ich denke darüber nach. Ich bin hauptsächlich glücklich, aber ich denke auch mit einem Hauch von Wehmut an all das, was ich mit Darcy gemeinsam erlebt habe. Bis jetzt waren unsere beiden Leben ineinander verflochten – sie war mein Bezugsrahmen bei so vielen Ereignissen in unserem Leben. Trommeln auf der Zweihundert-Jahr-Parade. Das war während der Geiselkrise, als wir den Baum in unserem Garten mit gelben Bändern umwunden haben. Gemeinsam gesehen haben, wie der Challenger vom Himmel stürzte, wie die Berliner Mauer fiel, wie die Sowjetunion sich auflöste. Diese Fragen – wo warst du, als du von Prinzessin Dianas Tod hörtest oder von John F. Kennedy? Das alles habe ich mit Darcy erlebt. Und dann gibt es noch unsere persönliche Geschichte. Gemeinsame Erinnerungen, die nur wir miteinander teilen. Dinge, die
keine andere Menschenseele auch nur annähernd verstehen würde.
    Dex betrachtet mich aufmerksam und wartet auf meine Antwort.
    « Ja», sage ich schließlich nahezu betreten.«Ich vermisse sie. Ich kann nichts dazu.»
    Er nickt, als ob er es verstände. Wie kommt es, dass ich sie vermisse und Dex sie nicht? Vielleicht, weil ich sie so viel länger kenne. Vielleicht auch, weil eine Freundschaft etwas anderes ist als eine intime Beziehung. In einer Beziehung ist dir klar, dass sie zu Ende gehen kann. Man lebt sich auseinander, du findet jemand anderen oder entliebst dich schlichtweg. Aber eine Freundschaft ist kein Nullsummenspiel, und deshalb nimmst du an, dass sie ewig halten wird, erst recht, wenn es eine alte Freundschaft ist. Du nimmst ihre Dauerhaftigkeit als selbstverständlich hin, und vielleicht macht gerade das sie so kostbar. Selbst als Dex die zwei Sechsen würfelte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es mit Darcy und mir einmal zu Ende sein könnte.
    Ich denke an sie und frage mich, was sie in diesem Augenblick empfinden mag. Ist sie so melancholisch wie ich? Oder bloß wütend? Ist sie mit Marcus oder mit Claire zusammen? Oder ist sie allein und blättert betrübt in unserem High-School-Jahrbuch und alten Bildern von Dexter herum? Vermisst sie mich auch? Werden wir je wieder Freundinnen sein, uns erst zaghaft zum Lunch oder zum Kaffee verabreden und dann behutsam aufeinander zugehen, Schritt für Schritt? Vielleicht werden wir beide über diesen verrückten Sommer lachen, als eine von uns noch Twentysomething war. Aber das bezweifle ich. Diese Kluft lässt sich nicht überbrücken,
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