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Freitags Tod

Freitags Tod

Titel: Freitags Tod
Autoren: Anne Kuhlmeyer
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wieder einmal nicht angerufen hatte. Lilly.
    Die Zeit schien ihm durch die Finger zu rinnen. Er goss sich einen Whisky ein. Whisky half. Er half beim Vergessen. Manchmal tauchten Episoden aus seiner Erinnerung auf, deren Präsenz ihm fast den Atem nahmen, Geschichten vom Warten und vom Alleinsein. Er wollte nicht allein sein. Aber ihm kam es so vor, als sei es nie anders gewesen. Es war, als verflüchtigte sich die Gemeinsamkeit, als stehle sie sich davon, sobald er in ihre Nähe kam.
    Lilly. Die Tage mit ihr hatten eine Leichtigkeit, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. Sie waren blau und golden und grün. Nur bekamen sie Löcher, erst kleine, wie vom Funkenflug. Dann wurden sie größer und größer und versengten seine Erinnerung, bis nichts blieb als der Schatten von Asche. Den Nächten erging es nicht anders. Hatte er eben noch ihre Haut unter seinen Fingerspitzen gespürt, war der Linie ihres Nackens gefolgt, versandeten die Bilder im Nichts. Lilly. Er konnte sie anrufen, um sich ihrer Stimme zu vergewissern. Doch was bedeutete schon eine Stimme? Einem Impuls folgend, goss er den Whisky in den Ausguss und nahm die Autoschlüssel.
    Ein Balken knarrte. Laub raschelte draußen. Es musste so gegen drei sein. Lilly schlief nicht. Wieder nicht. Ein Knistern hatte sie vor Stunden geweckt. Neben ihr machte es »klick«. Ihr Handy machte immer »klick«, wenn eine SMS ankam. Sie mochte die kleinen gelben Briefchen. Sie hasste es, sie zu schreiben.
    »Könntest du rauskommen, wenn du nicht schläfst?«
    Ihr war kalt. Aber sie entledigte sich ihrer rosa Socken und ihrer wenig anziehenden Nachtgarderobe, schlüpfte in Jeans und Pullover und tappte zur Haustür. Nichts. Nur das Licht der Straßenlaterne auf dem nächtlichen Pflaster. Sie ging durch die Küche und öffnete die Terrassentür. Fast prallte sie gegen seine massige Gestalt.
    »Conrad.«
    »Ja.«
    »Was willst du?«
    »Ich muss dir etwas erzählen.«
    Das kam nicht oft vor. Conrad musste eigentlich nie etwas erzählen. Lilly war die, die immer etwas erzählen musste. Sie ließ ihn ein und entzündete eine Kerze. Mehr Licht ertrugen ihre Augen nicht.
    »Wein? Bier? Himbeerlikör? Kaffee?«
    »Hast du einen Whisky? Einen doppelten?«
    Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er ließ sich auf das Sofa fallen und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Eine Geste, oft an ihm gesehen, die ihr ins Herz schnitt.
    »Nein.«
    »Dann Himbeerlikör.«
    Sie goss ein und schenkte nach, als er das Glas geleert hatte. Nach der dritten Runde lehnte er sich zurück. Fuhr sich wieder mit der Hand … Sie mochte nicht hinsehen.
    »Es ist das Vergessen, Lilly.«
    Er nannte sie Lilly. Und das war gut so. Wer wollte schon Elisabeth heißen? Er nannte sie nur Elisabeth, wenn er etwas Bedeutsames zu sagen hatte. Also entspannte sie sich.
    »Hm«, machte sie, denn sie hatte keine Ahnung, was er wollte.
    »Ich vergesse. Alles, Elisabeth.« Conrad sah sie nicht an. Eigentlich sah er sie nie an, fast nie.
    »Warst du schon beim Arzt«, war das Einzige, was ihr dazu einfiel. Sie fühlte sich müde und leer.
    »Nein.«
    »Das solltest du aber. Man soll solche Sachen nicht auf die leichte Schulter …«
    Er hob die Hand, und sie schwieg. Mühsam lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf sein Problem.
    »Das Vergessen.«
    »Ja.« Dann schwieg er wieder eine Weile. »Ich vergesse. Alles. Auch den Schlüssel manchmal, und wo ich eine Telefonnummer gelassen habe, das auch. Aber das ist es nicht.«
    Sie wartete und schenkte einen Himbeerlikör nach. Als er ihn nicht anrührte, leerte sie selbst das Glas.
    »Das Vergessen ist überall, Lilly. Ich vergesse nicht die Dinge selbst, nicht die Begebenheiten, nicht ihre Abläufe. Ich vergesse, wie sie sich anfühlen, wenn sie nicht mehr da sind. Ich vergesse ihren Geruch, ihren Geschmack. Ich vergesse ihre Konsistenz, ihre Farbe und ihre Konturen. Ich vergesse alles. Alles!«
    Conrad hob den Blick und schaute ihr in die Augen. »Ich vergesse dich, Lilly, wenn du fort bist.«
    Stille trat ein. Sie wartete.
    »Ich vergesse dich, Lilly, wenn du fort bist«, wiederholte er.
    »Naja«, sagte sie. Sie hatte keine Ahnung, warum er sie nachts um drei aus dem Bett holte, um ihr das zu sagen. Er wirkte irritiert. Deshalb hob sie die Schultern und setzte »ich weiß« hinzu.
    »Du weißt es?« Jetzt schenkte er sich selbst nach.
    »Sicher.
    »Wie lange schon?«
    Sie überlegte. »Lange.«
    »Und es macht dir nichts aus?«
    »Doch.«
    »Aber?«
    »Was aber?«
    »Warum hast
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