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Frau Schick macht blau

Frau Schick macht blau

Titel: Frau Schick macht blau
Autoren: Ellen Jacobi
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aber erheblich lieber.
    Grünschnabel kriecht fast in den Bildschirm und schüttelt besorgt den Kopf. »Da ist tatsächlich nichts zu sehen«, murmelt er fassungslos, »rein gar nichts.«
    »Junger Mann, zügeln Sie sich. Sie sprechen von meinem Gehirn! Und da ist eine Menge drin.« Jedenfalls mehr als bei ihm. »Außerdem wusste bereits Arthur Schopenhauer, dass nur wer Verstand besitzt, ihn auch verlieren kann. Andersherum geht’s nicht. Merken Sie sich das.«
    Grünschnabel forscht stumm weiter.
    Frechheit! Ihr Dachstübchen ist trotz – oder besser gesagt – wegen des regen Gebrauchs erstaunlich intakt und hochintelligent, hat Professor Ludrikeit letzte Woche gesagt. Er hat lediglich ein »unbedenkliches Nachlassen des Kurzzeitgedächtnisses ohne Beeinträchtigung des Denk- oder Wahrnehmungsvermögens« diagnostiziert. Mit anderen Worten: Sie ist etwas tüdelig, verbummelt Brillen und Handtaschen und muss lange nach Namen von flüchtigen Grußbekanntschaften kramen. Das wiederum war für Frau Schick nichts Neues. Darum denkt sie sich ja andere Namen für sie aus – wie »Weihnachtsmann«. Den kann man sich immer merken.
    Professor Ludrikeit hält allerdings auch nichts von den gedächtnisfördernden Ginkgotabletten, die sie gelegentlich einnimmt. Wenn sie es nicht vergisst oder die blöden Dinger mit ihrer Brille auf Wanderschaft gehen.
    Herrje, sie ist eben tüdelig, na und? Das liegt in der Familie. Ihr Großonkel Taddäus von Todden hat schon vor seinem Siebzigsten begonnen, sämtliche Namen und Menschen auf Gut Pöhlwitz in Masuren munter zu verwechseln. Schuld daran war bei Taddäus neben den Genen allerdings seine Vorliebe für Meschkinnes, Ostpreußens Nationalgetränk, auch »Bärenfang« genannt.
    »Schnapske mott sö, Brot wenn sö kann«, war sein Motto. »Schnaps muss sein, Brot, wenn’s geht.«
    Bei Festreden vor dem Gutspersonal hat Onkel Taddäus in seinen Neunzigern und nach drei, vier Gläschen Meschkinnes die olle Schemutat gern für ihren todesmutigen Einsatz an der Seite der Pommerschen Ulanen im Deutsch-Französischen Krieg und unter seinem Kommando gelobt. Ausgerechnet die herzensgute Schemutat, die sogar verletzten Fliegen am liebsten die Flügel oder Beinchen wieder angeleimt hätte, »weil unser Herrjott sich bei jedem Geschöpf was bei jedacht haben muss«.
    Ach ja, und erst Taddäus’ Reden zu Führers Geburtstag! Frau Schick muss schmunzeln. Die waren legendär, weil er sie stets mit »Heil – wie hieß dieser Anstreicher noch? Ach, zum Teufel, Waidmannsheil« beendete. Daran waren nicht nur der Meschkinnes oder ein morsches Oberstübchen schuld. Onkel Taddäus war sein Leben lang ein listiger Schlawiner.
    Auch das liegt in ihrer Familie.
    Frau Schicks Vater, der Herr von Gut Pöhlwitz, hat dem tüdeligen Taddäus das Waidmannsheil gern durchgehen lassen. Er hatte nicht viel übrig für Herrn Hitler, aber umso mehr für seine Butzi – die Mutter von Frau Schick –, die halb von österreichischem Adel und halb jüdisch war und das Talent hatte, so zu leben, wie Mozarts heiterste Musik klingt.
    Natürlich gab es auch unter den von Toddens und auf Pöhlwitz flammend begeisterte Nazis, die das mit dem Waidmannsheil verpetzen und die glücksbegabte Butzi ans Messer liefern wollten.
    Vor allem Tante Freda. Sogar aus dem fernen Köln, wo sie sich ein ganz hohes Tier in der Gauleitung an Land gezogen hatte. Frau Schick schluckt tapfer. Butzi, ausgerechnet Butzi, ist dann schließlich mit einem Röhrchen Veronal dahin entflohen, wohin kein Verräter oder Mörder oder Tante Freda sie verfolgen konnte.
    Schluss, Schluss, Schluss!, mahnt sich Frau Schick. Egal, wie begabt ihr Gedächtnis dafür ist, sich an versunkene Kindertage in Masuren zu erinnern, es muss sofort damit aufhören, sonst fängt es an, scheußlich wehzutun.
    »Kindchen, fürs Jewesene gibt der Deiwel nuscht nich«, hat die olle Schemutat ihr beigebracht. »Leben musste von Momentche zu Momentche.« Recht hatte sie, wie mit so vielem – und wer nur noch in Erinnerungen lebt, der ist so gut wie tot. Das könnte Freda so passen.
    Grünschnabel wirbelt wieder zu ihr herum und fixiert sie mit einem stechenden Blick aus stachelbeergrünen Augen. Sehr ungesunde Farbe.
    »Frau Schick. Hatten Sie unmittelbar vor dieser … hm … Erscheinung im Kleiderschrank ein Schockerlebnis?«
    »Ganz im Gegenteil! Vor drei Wochen war ich noch auf dem Jakobsweg. Ein wundervolles Erlebnis. Danach ging es mir so gut wie seit Langem nicht, bis
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