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Fratze - Roman

Titel: Fratze - Roman
Autoren: PeP eBooks
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ganzen Krankenhaus an meinem Zimmer vorbeigekommen und haben von der Tür aus einen Blick hineingeworfen, und wenn man sie dabei ertappt hat, haben sie »Herzlichen Glückwunsch« gebellt, die Mundwinkel weit auseinandergerissen, leicht zitternd in einem steifen, wässrigen Lächeln. Mit Stielaugen. So muss man es nennen. Und immer wieder habe ich ein und dasselbe Pappschild hochgehalten, auf dem stand: danke.
    Und dann bin ich weggelaufen. Das ist jetzt, nachdem mein neues Baumwollkreppkleid von Espre eingetroffen ist. Schwester Katherine stand den ganzen Vormittag mit einem Lockenstab über mir, bis meine Haare ein einziger großer Buttercremehaufen waren, eine Alles-aus-dem-Gesicht-raus-Frisur. Dann kam Evie mit ihrem Schminktäschchen und machte mir die Augen. Ich zog mein scharfes neues Kleid an und konnte es gar nicht erwarten, mit dem Schwitzen anzufangen. Den ganzen Sommer hatte ich keinen Spiegel zu Gesicht bekommen, oder wenn doch, hatte ich nicht begriffen, dass das Spiegelbild ich war. Ich hatte die Polizeifotos nicht gesehen. Als Evie und Schwester Katherine fertig waren, sage ich: »De foil iowa fog geoff.«
    Und Evie sagt: »Gern geschehen.«
    Schwester Katherine sagt: »Aber Sie haben doch gerade erst zu Mittag gegessen.«
    Keiner versteht mich hier, das ist schon mal klar.
Ich sage: »Kong wimmer nay pee golly.«
    Und Evie sagt: »Ja, das sind deine Schuhe, aber ich tue ihnen nichts.«
    Und Schwester Katherine sagt: »Nein, jetzt noch keine Post, meine Liebe, aber wir können an ein paar Häftlinge schreiben, wenn Sie Ihr Schläfchen gemacht haben.«
    Dann gingen sie. Und. Ich ging auch, allein. Und. Wie schlimm konnte es sein, mein Gesicht?
    Und manchmal ist es so, dass sich eine Verstümmelung zu deinem Vorteil auswirkt. All die Leute heutzutage mit ihren Piercings und Tattoos und Brandings und Skarifizierungen … Ich will damit sagen: Aufmerksamkeit ist Aufmerksamkeit.
    Als ich nach draußen komme, habe ich das erste Mal das Gefühl, ich hätte was verpasst. Ich meine, da ist ein ganzer Sommer einfach verschwunden. All die Poolpartys und das Rumliegen auf dem hübsch lackierten Bug eines Schnellboots. Strahlen auffangen. Typen mit Kabrios aufgabeln. Mir wird klar, dass all die Picknicks, Softball-Spiele und Konzerte irgendwie auf ein paar Schnappschüsse zusammengeschnurrt sind, die Evie wahrscheinlich nicht vor Thanksgiving entwickelt haben wird.
    Als ich nach draußen komme, ist die Welt ungeheuer bunt nach dem Weiß in Weiß des Krankenhauses. Richtig schrill. Ich gehe zu einem Supermarkt, und das Einkaufen kommt mir vor wie ein Spiel, das ich seit Kindertagen nicht mehr gespielt habe. Hier sind alle meine Lieblingsmarkenartikel in ihren bunten Farben. French’s Mustard, Rice-A-Roni-Reisnudeln, Top-Ramen-Nudelsnack, alles buhlt um meine Aufmerksamkeit.
    Diese Farben. Eine komplette Verschiebung des Schönheitsmaßstabs, so dass nichts Einzelnes heraussticht.

    Das Ganze ist weniger als die Summe seiner Einzelteile.
    So viel Farbe auf einem Haufen.
    Außer dem Markenartikelregenbogen gibt es nichts zum Anschauen. Sobald ich irgendwelche Leute ansehe, sehe ich nichts weiter als Hinterköpfe. Selbst wenn ich mich ganz schnell umdrehe, erwische ich höchstens noch ein Ohr, das sich gerade abwendet. Und die Leute sprechen mit Gott.
    »O Gott«, sagen sie. »Hast du das gesehen?«
    Und: »War das eine Maske? Herrje, eigentlich noch ein bisschen früh für Halloween.«
    Alle sind vollauf damit beschäftigt, die Aufschriften der French’s-Mustard-Gläser und der Rice-A-Roni-Packungen zu lesen.
    Also nehme ich mir einen Truthahn.
    Ich weiß nicht, warum. Ich habe kein Geld, aber ich nehme mir einen Truthahn. Ich wühle zwischen den großen tiefgefrorenen Truthähnen, diesen riesigen fleischfarbenen Eisklumpen in der Gefriertruhe. Ich wühle herum, bis ich den größten Truthahn gefunden habe, und ich halte ihn in seiner gelben Plastikverpackung wie ein Baby im Arm.
    Ich schleppe mich dem Ausgang entgegen, direkt durch die Kassen, und niemand hält mich auf. Niemand sieht überhaupt her. Alle vertiefen sich in ihre Boulevardblätter, als sei darin Gold versteckt.
    »Sejgfn di ofo utnbg«, sage ich. »Nei wucj iswisn sdnsud.«
    Niemand blickt auf.
    »EVSF UYYB IUH«, sage ich mit meiner besten Bauchrednerstimme.

    Sogar sprechen tut keiner. Vielleicht sprechen nur die Kassierer. Könnte ich bitte Ihren Ausweis sehen?, fragen sie die Kunden, die Schecks ausfüllen.
    »Fgjrn iufnv si vuv«, sage ich.
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