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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan
Autoren: Freihheit
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Licht
an, trank ein Glas Wasser und merkte, wie es ihn, kompromisshalber, zu dem
Aktenschrank zog; er konnte sich ja wenigstens einmal ansehen, was die
Außenwelt ihm zu sagen hatte. Zuerst öffnete er die Versandtasche aus Jersey
City. Sie enthielt keine Nachricht, nur eine CD in undurchdringlicher Plastikfolie.
Anscheinend handelte es sich um ein von einem kleinen Label herausgebrachtes
Solo-Werk von Richard Katz, auf dem Cover eine boreale Landschaft, darüber
geblendet der Titel Songs for Walter.
    Er hörte
einen spitzen Schmerzensschrei, seinen eigenen, als wäre es der einer anderen
Person. Dieser Scheißkerl, dieser Scheißkerl, das war nicht fair. Mit zitternden Händen drehte er die CD um und las
die Titelliste. Der erste Song hieß: «Two Kids Good,
No Kids Better.»
    «Mann, was
bist du für ein Arschloch», sagte er, lächelnd und weinend. «Das ist so unfair,
du Arschloch.»
    Nachdem er
eine Zeitlang geweint hatte, weil er das so unfair fand und weil es möglich
schien, dass Richard doch nicht ganz und gar herzlos war, steckte er die CD
wieder in die Versandtasche und öffnete den Umschlag von Patty. Er enthielt ein
Manuskript, von dem er nur einen kurzen Abschnitt las, bevor er zur Haustür
rannte, sie aufriss und mit den Seiten vor Pattys Gesicht herumfuchtelte.
    «Ich will
das nicht haben!», schrie er sie an. «Ich will nichts von dir lesen! Nimm das
gefälligst und setz dich in dein Auto und wärm dich auf, hier draußen ist es
nämlich scheißkalt!»
    In der Tat
schlotterte sie vor Kälte, aber sie schien in ihrer kauernden Haltung wie
festgefroren zu sein und blickte nicht auf, um zu sehen, was er da in der Hand
hielt. Eher senkte sie den Kopf noch mehr, als schlüge Walter auf ihn ein.
    «Setz dich
in dein Auto! Wärm dich auf! Ich habe dich nicht gebeten herzukommen!»
    Vielleicht
war es bloß ein besonders heftiges Schlottern, aber sie schien als Reaktion
darauf den Kopf zu schütteln, ganz minimal.
    «Ich
verspreche, dich anzurufen», sagte er. «Ich verspreche, am Telefon mit dir zu
reden, wenn du jetzt weggehst und dich aufwärmst.»
    «Nein»,
sagte sie sehr leise.
    «Na schön!
Dann erfrier eben!»
    Er knallte
die Tür zu und rannte durch das Haus und zur Hintertür wieder nach draußen,
bis ganz hinunter zum See. Er war entschlossen, seinerseits zu gefrieren, wenn
sie so versessen darauf war, draußen in der Kälte zu bleiben. Aus irgendeinem
Grund hielt er ihr Manuskript noch in der Faust. Auf der anderen Seite des Sees
waren die taghellen, verschwenderischen Lichter der Canterbridge-Siedlung, die
Großbildschirme, die von all dem erflackerten, was der Außenwelt nach ihrem
eigenen Dafürhalten an diesem Abend widerfuhr. Und alle hatten es warm in ihren
Höhlen, jagten doch die kohlebetriebenen Elektrizitätswerke der
Iron-Range-Region Strom durchs Netz, solange die Arktis noch arktisch genug
war, um Frost durch die Oktoberwälder der gemäßigten Zone herabzuschicken.
Sowenig er je gewusst hatte, wie man lebt, nie hatte er es weniger gewusst als
jetzt. Doch als die Kälte, bis dahin frisch und belebend, allmählich etwas
Schneidendes bekam, etwas Eisiges, das er bis in die Knochen spürte, begann er
sich Sorgen um Patty zu machen. Mit klappernden Zähnen ging er den Hügel hinauf
und um das Haus herum zum Eingang. Sie lag, weniger stark zusammengekrümmt als
zuvor, auf der Seite, den Kopf im Gras, und hatte aufgehört zu zittern, was gar
kein gutes Zeichen war.
    «Also,
ehrlich, Patty», sagte er und kniete sich hin. «Das ist doch Mist. Ich bringe
dich jetzt rein.»
    Sie regte
sich ein wenig, sehr steif. Ihre Muskeln wirkten starr, und durch den Cordstoff
ihrer Jacke drang keine Wärme. Er versuchte, ihr beim Aufstehen zu helfen,
aber das ging nicht, also trug er sie hinein, legte sie auf das Sofa und häufte
Decken über sie.
    «Wie
bescheuert bist du eigentlich?», sagte er, während er Teewasser aufsetzte. «So
was ist lebensgefährlich. Patty? Es müssen keine Minusgrade herrschen, man kann
auch sterben, wenn es um null herum ist. So lange da draußen zu sitzen ist doch
einfach bescheuert. Ich meine, wie lange hast du in Minnesota gelebt? Hast du überhaupt
nichts gelernt? Das ist so dermaßen bescheuert von dir.»
    Er drehte
den Heizofen höher und brachte ihr einen Becher heißes Wasser und half ihr,
sich aufzurichten, damit sie einen Schluck trinken konnte, aber sie prustete
das Wasser direkt auf das Polster. Als er versuchte, ihr mehr davon zu geben,
schüttelte sie den Kopf
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