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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan
Autoren: Freihheit
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nie die Absicht, mich neu zu verlieben. Und ich weiß, dass du sehr
unglücklich darüber bist. Aber es ist nur passiert, weil es unmöglich war, mit
deiner Mutter zusammenzuleben.»
    «Dann
solltest du dich von ihr scheiden lassen. Ist das nicht das mindeste, was du
ihr nach all den Ehejahren schuldig bist? Wenn dir genügend an ihr gelegen hat,
um in all den guten Jahren bei ihr zu bleiben, schuldest du ihr dann nicht
wenigstens den Respekt, dich in aller Ehrlichkeit von ihr scheiden zu lassen?»
    «Das waren
keine so guten Jahre, Jessica. Sie hat mich die ganze Zeit belogen - ich glaube
nicht, dass ich ihr dafür so übermäßig viel schuldig bin. Und wie gesagt, wenn
sie die Scheidung will, kann sie sie haben.»
    «Sie will
keine Scheidung! Sie will wieder mit dir zusammenkommen!»
    «Ich kann
mir nicht vorstellen, sie auch nur eine Minute lang zu sehen. Das Einzige, was
ich mir vorstellen kann, ist unerträglicher Schmerz, sobald ich sie vor mir
habe.»
    «Wäre es
nicht möglich, Dad, dass es
deshalb so schmerzhaft ist, weil du sie noch liebst?»
    «Wir
müssen jetzt über etwas anderes reden, Jessica. Wenn meine Gefühle dir am
Herzen liegen, dann fang nicht wieder davon an. Ich möchte keine Angst haben
müssen, ans Telefon zu gehen, wenn du anrufst.»
    Das
Gesicht in den Händen, saß er, ohne sein Essen anzurühren, lange Zeit da,
während es im Haus ganz allmählich dunkler wurde und die irdische Frühlingswelt
der weniger greifbaren Himmelswelt wich: pinkfarbene stratosphärische Streifen,
die kosmische Kälte des Alls, die ersten Sterne. Genauso funktionierte im
Moment sein Leben: Er stieß Jessica von sich, und schon in der nächsten Sekunde
vermisste er sie. Er erwog, am nächsten Morgen noch einmal nach Minneapolis zu fahren, den Kater zu holen und ihn den Kindern zurückzugeben, die
ihn vermissten, aber das konnte er genauso wenig tun, wie er Jessica anrufen
und sich bei ihr entschuldigen konnte. Was geschehen war, war geschehen. Was
vorbei war, war vorbei. Im Mingo County in West
Virginia, an dem grässlichsten bewölkten Morgen seines Lebens, hatte er
Lalithas Eltern gefragt, ob er den Leichnam ihrer Tochter sehen dürfe. Ihre
Eltern waren unterkühlte, verschrobene Leute, Ingenieure, mit starkem Akzent.
Der Vater vergoss keine Träne, aber die Mutter brach, einfach so, immer wieder
laut in eine fremdländische, beinahe liedhafte Totenklage aus, die merkwürdig
zeremoniell und unpersönlich klang, wie ein Lamento über eine Idee. Walter ging
allein zur Leichenhalle, ohne die leiseste Idee. Seine Liebe lag unter einem
Laken auf einer Bahre, die unpassend hoch war, zu hoch, um davor zu knien.
Lalithas Haar war wie immer, seidig, schwarz und dick, ganz wie immer, aber
irgendetwas stimmte mit ihrem Kiefer nicht, er war auf eine himmelschreiend
grausame, unverzeihliche Art verletzt, und ihre Stirn, die er dann küsste, war
kälter, als ein gerechtes Universum die Stirn eines so jungen Menschen je hätte
sein lassen dürfen. Die Kälte drang über seine Lippen in ihn ein und verließ
ihn nicht mehr. Was vorbei war, war vorbei. Seine Freude an der Welt war
erloschen, nichts hatte noch irgendeinen Sinn. Mit seiner Frau in Kontakt zu
treten, wie Jessica es so unbedingt wollte, hätte bedeutet, seine letzten Augenblicke
mit Lalitha herzugeben, und er hatte ein Recht darauf, das nicht zu tun. In
einem derart ungerechten Universum hatte er ein Recht darauf, unfair zu seiner
Frau zu sein, und ein Recht darauf, die kleinen Hoffbauers vergebens nach ihrem
Bobby rufen zu lassen, denn nichts hatte irgendeinen Sinn.
    Indem er
Kraft aus seiner Verweigerungshaltung schöpfte - genügend Kraft jedenfalls, um
morgens aus dem Bett zu kommen und die langen Tage im Freien und die langen
Fahrten auf den von Urlaubern und Exstädtern verstopften Straßen durchzustehen
-, brachte er einen weiteren Sommer hinter sich, den bisher einsamsten seines Lebens.
Er sagte Joey und Connie, was in gewissem (aber nicht sehr hohem) Maß der
Wahrheit entsprach, dass er für einen Besuch von ihnen zu beschäftigt sei, und
er gab den Kampf gegen die Katzen, die weiterhin sein Wäldchen belagerten, auf;
noch so einem Drama, wie er es mit Bobby durchgemacht hatte, fühlte er sich
nicht gewachsen. Im August kam ein dicker Briefumschlag von seiner Frau, eine
Art Manuskript vermutlich, das im Zusammenhang mit der «Nachricht» stand, von
der Jessica gesprochen hatte, und er verstaute ihn, ungeöffnet, in der
Dokumentenschublade, in der er die
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