Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan
Autoren: Freihheit
Vom Netzwerk:
und machte unbestimmt abwehrende Geräusche. Ihre Finger
waren eisig, Arme und Schultern dumpfkalt.
    «Scheiße,
Patty, so was Bescheuertes. Was hast du dir bloß dabei gedacht? Das ist
das Bescheuertste, was du mir je angetan hast.»
    Sie schlief
ein, während er sich auszog, und wachte nur ein kleines bisschen auf, als er
die Decken zurückschlug und ihr die Jacke auszog und sich mit ihrer Hose
abmühte, um sich dann, nur in seiner Unterhose, zu ihr zu legen und sie beide
zuzudecken.
    «Also, du
bleibst jetzt schön wach, verstanden?», sagte er und presste so viel wie irgend
möglich von seiner Körperoberfläche an ihre marmorkalte Haut. «Das
Allerbescheuertste wäre, wenn du jetzt das Bewusstsein verlieren würdest.
Verstanden?»
    «Mhm-m»,
sagte sie.
    Er legte
einen Arm um sie und rieb sie ein wenig, wobei er sie ununterbrochen
verwünschte, die Lage verwünschte, in die sie ihn gebracht hatte. Lange Zeit
wurde und wurde sie nicht wärmer, schlief immer wieder ein und wachte kaum auf,
aber zuletzt sprang irgendetwas in ihr an, und sie begann zu zittern und sich
an ihn zu klammern. Er hielt und rieb sie weiter, und dann, mit einem Schlag,
waren ihre Augen weit geöffnet, und sie sah in ihn hinein.
    Sie
blinzelte kein einziges Mal. Ihre Augen hatten immer noch etwas beinahe Totes
an sich, etwas sehr weit Entferntes. Ganz durch ihn hindurch und noch viel
weiter schienen sie zu sehen, bis in den kalten Raum der Zukunft hinein, in dem
sie beide bald tot sein würden, bis in das Nichts, in das Lalitha und seine
Mutter und sein Vater schon hinübergewechselt waren, und doch sah sie ihm
direkt in die Augen, und er spürte, wie sie von Minute zu Minute wärmer wurde.
Und so hörte er auf, ihre Augen anzusehen, und sah stattdessen in sie hinein,
erwiderte ihren Blick, bevor es zu spät war, bevor diese Verbindung zwischen
dem Leben und dem, was danach kommen mochte, abbrach, und ließ sie all die
Widerwärtigkeit in ihm sehen, all den Hass von zweitausend einsamen Nächten,
solange sie beide noch mit jenem Vakuum in Berührung standen, in dem die Summe
all dessen, was sie je gesagt oder getan hatten, jeder Schmerz, den sie sich
zugefügt, jede Freude, die sie geteilt hatten, weniger wiegen würde als die
kleinste Feder im Wind.
    «Ich
bin's», sagte sie. «Nur ich.»
    «Ich
weiß», sagte er und küsste sie.
     
    Ganz weit
unten auf der Liste denkbarer Szenarien, wie die Sache mit Walter einmal
ausgehen würde, hatte für die Bewohner der Canterbridge-Siedlung die
Möglichkeit gestanden, dass sie Walters Wegzug bedauerlich fänden. Niemand, am
wenigsten Linda Hoffbauer, hätte den Sonntagnachmittag Anfang Dezember
vorhersehen können, an dem Walters Frau Patty seinen Prius am Canterbridge
Court parkte und von Tür zu Tür ging, um sich kurz und unaufdringlich
vorzustellen und ihnen mit Frischhaltefolie abgedeckte Teller selbst gebackener
Weihnachtskekse zu überreichen. Linda kam in eine missliche Lage, als sie Patty
kennenlernte, weil nichts an ihr auf Anhieb unsympathisch wirkte und weil es
sich von selbst verbot, ein Weihnachtsgeschenk nicht anzunehmen. Neugier, mehr
als alles andere, bewog sie dazu, Patty hereinzubitten, und ehe sie sich's
versah, kniete Patty auf dem Boden ihres Wohnzimmers und lockte ihre Katzen
herbei, um sie zu streicheln, und wollte wissen, wie sie hießen. Sie schien ein
so warmherziger Mensch zu sein, wie ihr Mann kaltherzig war. Als Linda sie
fragte, warum sie sich bisher noch nicht begegnet seien, lachte Patty trällernd
und sagte: «Ach, Walter und ich haben uns eine kleine Verschnaufpause voneinander
gegönnt.» Das war eine merkwürdige und ziemlich clevere Formulierung, an der
sich moralisch nichts Eindeutiges aussetzen ließ. Patty blieb jedenfalls lange
genug, um das Haus und den Blick auf den schneebedeckten See zu bewundern, und
im Gehen lud sie Linda und deren Familie zu dem kleinen Nachbarschaftsempfang
ein, den sie und Walter am Neujahrstag geben würden.
    Linda war
nicht sonderlich geneigt, das Haus von Bobbys Mörder zu
betreten, doch als sie mitbekam, dass alle anderen Familien vom Canterbridge
Court (mit Ausnahme der beiden, die schon in Florida waren) zu dem Empfang
hingehen wollten, erlag sie einer Mischung aus Neugier und christlicher
Duldsamkeit. Die Sache war die, dass Linda in der Nachbarschaft neuerdings
gewisse Popularitätsprobleme hatte. Obwohl sie in ihrer Kirchengemeinde über
einen eigenen Kader von Freunden und Verbündeten verfügte, hing sie auch dem
Glauben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher