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Frage 62

Frage 62

Titel: Frage 62
Autoren: T. C. Boyle
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wollte Doug das Risiko nicht eingehen, und so hatte sie aus Zucchini, Reis und etwas übriggebliebener Marinara-Sauce etwas gezaubert, und danach hatten sie sich auf dem Klassikkanal eine alte Hollywoodkomödie angesehen. Sie hatten die ersten zehn Minuten verpasst, und Mae wusste nicht, wie er hieß, aber Gene Kelly spielte die Hauptrolle und trug einen Matrosenanzug. Doug, der das letzte Bier seines Sixpacks trank, sagte, es müsste eigentlich Singing in the Rain sein.
    Das war witzig, und obwohl sie abgelenkt war – das war sie schon den ganzen Tag –, musste sie lachen. Dann lauschten sie schweigend auf das Prasseln des Regens auf dem Dach. Es war so laut und durchdringend, dass es für einen Augenblick den Filmdialog übertönte.
    »Ich glaube, das ist er jetzt«, sagte Doug und lehnte sich mit einem Seufzer in seinem Fernsehsessel zurück, »der Monsun. Und er meint’s ernst, nicht?« Er machte mit der Bierdose eine Geste zur Decke.
    »Ja«, sagte sie und sah den hellen Gestalten zu, die über den Bildschirm glitten. »Ich hoffe nur, wir werden nicht weggespült. Glaubst du, der Wagen kann in der Einfahrt stehenbleiben?«
    Er sah sie irritiert an. »Ist doch bloß Regen.«
    »Es kommt mir nur so seltsam vor ohne Blitz und Donner. Es gießt, als hätte im Himmel jemand den Hahn aufgedreht.« Sie verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht. Mir gefällt das nicht. Ich glaube nicht, dass ich mich je daran gewöhnen werde – nicht mal an das Wort. Monsun . Das klingt so bizarr. Wie irgendwas aus irgendeinem Dschungel.«
    Er zuckte nur die Schultern. Mit Blick auf seine Karriere hatten sie sich für Kalifornien – Moorpark – anstatt für Atlanta entschieden, denn – und in dieser Frage stimmten sie absolut überein – sie wollten nicht in den Südstaaten leben. Und obwohl es ihr gefiel, das ganze Jahr über im Garten arbeiten zu können – Blumen, die im Februar blühten, und Bäume, die nie ihre Blätter verloren –, hatte sie sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass es hier anscheinend keinen richtigen Wechsel von Jahreszeiten gab und die Erde unter der gnadenlosen Sommersonne steinhart wurde, so dass in den Beeten am Zaun nur noch Unkraut und Steppenhexen wuchsen. Steppenhexen . Als wäre sie hier im Wilden Westen.
    Sie hatte ebenfalls zwei Dosen Bier getrunken, und ihre Gedanken schweiften ab. Sie konnte sich nicht auf den Film konzentrieren, auf all diese Bewegungen, dieses Singen und Tanzen, diese biedre Handlung – als hätte das alles irgendeine Bedeutung. Als Doug wortlos aufstand, sich an der Sessellehne abstützte und in Richtung Schlafzimmer ging, griff sie nach der Fernbedienung und schaltete durch die Kanäle. Sie suchte etwas, irgend etwas, das ihr zurückbringen würde, was sie am Morgen empfunden hatte, als sie im Garten gekniet hatte und ringsum der Nebel aufgestiegen war. Der Tiger war irgendwo dort draußen in der finsteren Nacht, im strömenden Regen. Es war ein Gedanke, an dem sie sich festhalten konnte, ein Bild, das in ihr wuchs wie etwas, was jemand dort eingepflanzt hatte. Und sie würden ihn nicht aufspüren können, wurde ihr jetzt bewusst, nicht jetzt, in diesem Regen. Nach einer Weile schaltete sie den Ton aus, saß einfach da, lauschte auf den Regen und hoffte, er würde nie aufhören.
    Eine Woche verging. Die Temperaturen fielen rapide, und dann schneite es immer wieder, bis Anita, als sie am Samstag Feierabend hatte und auf die Straße trat, von Dieselabgasen und den blinkenden Lichtern von Schneepflügen begrüßt wurde und durch dreißig Zentimeter hohen Schnee zu ihrem Wagen stapfen musste. Ihre Stimmung war auf einem Tiefpunkt. Mrs. Merker hatte ihre Windel ausgezogen, sich auf dem Korridor vor dem Stationszimmer hingehockt und gepinkelt, und Mr. Pohnert (»Nennen Sie mich Alvin«) hatte alle fünf Minuten geläutet und sich beklagt, er habe kalte Füße, obwohl seine beiden Beine vor fünf Jahren wegen Diabetes-Komplikationen amputiert worden waren. Und obendrein noch die üblichen Probleme, das Stöhnen und Wimmern, das Würgen und Erbrechen, Stimmen, die im Dunkeln riefen, die ganze Eigenartigkeit dieses isolierten, überheizten Hauses mit seinen tickenden Maschinen und sterbenden Menschen und sie selbst im Mittelpunkt des Ganzen. Und nun auch noch das. Der Himmel war dunkel und trüb, und der Wind trieb den Schnee in kleinen, harten, wie Nadeln stechenden Flocken vor sich her. Sie brauchte fünfzehn Minuten, um aus der Parklücke zu kommen, und fuhr nach Hause wie ein
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