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Fraeulein Stark

Titel: Fraeulein Stark
Autoren: Thomas Huerlimann
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Wirklich alles? Ganz so einfach war es nicht, doch kam ich nun mehr und mehr davon ab, im Katalogsaal nach fernen Ländern zu suchen, nach Forschern und Entdeckungsfahrten, und dabei auf Photographien oder Gravuren zu stoßen, die barbusige Urwaldfrauen zeigten, aber zu den Schublädchen ging ich nach wie vor, befeuchtete meinen Finger, raschelte in den Karten, und schon bald begann es mir zu dämmern, daß es ganz nah eine Welt geben mußte, die mir fremder war als die Lagunen in den fern-östlichen Gewässern.
    Inzwischen hatte die Bücherarche den August erreicht und lag fast jeden Nachmittag in einer Flaute fest. Nach dem Mittagessen versiegte der Besucherstrom, das Fräulein zog sich in die Küche zurück, die Mannschaft schlief. Gut so! Ich wußte ja, wie man Bücher bestellte, und die Karten, die ich immer besser zu deuten verstand, brachten mich mit ihren Verweisen von selbst auf die richtigen Fährten. In einem hinteren Teil des Katalogsaals standen die Sammelbände mit alten Zeitungen, und es machte mir einen Riesenspaß, auf hohe Leitern zu klettern und die schweren Bände aus den Regalen zu ziehen. Ich wollte mich über die Kriegszeit informieren, und vor allem wollte ich erfahren, woher dieser Geschlechtsname kam, den niemand mochte. Mama hatte ihn abgestreift, der Onkel verbarg ihn unter seiner Soutane, und das Fräulein, gottesfürchtig wie sie war, schien ihn wie einen Fluch zu empfinden -ich sei ein kleiner Katz, hatte sie gesagt, da müsse man »besonders aufpassen«. Als ich eines Nachmittags eine dieser Mordsschwarten an ihren Platz zurückstieß, lauerte am Fuß der Leiter ein Schatten: der Onkel. Er hatte ein Buch in der Hand und sagte, ohne aufzusehen, als würde er den Satz ablesen: Suchst du etwas Bestimmtes, Nepos?
    Der Onkel las noch ein paar Sätze, dann legte er einen gelben Papierstreifen zwischen die Seiten, klemmte das Buch unter den Arm und raschelte mit wehender Soutane davon. Wußte er, wonach ich suchte?

14
    Die Hilfsbibliothekare, die mir die Bücher ausliehen, trugen dickglasige, rundgerillte Brillen, graue Ärmel schöner und hatten am Hosenboden ein eingenähtes Herz, das Sitzleder. Jeder saß vor einer schwarzen Remington und füllte mit zwei nikotingefärbten Krummfingern, die wie die Krallen eines Raubvogels über der Tastatur schwebten, jahraus jahrein Katalogkarten aus, eine Karte nach der andern, denn jeder Stiftsbibliothekar, auch mein Onkel, pflegte mit seinem Amtsantritt ein eigenes System einzuführen, ein System, welches das System seines Vorgängers allmählich ersetzen sollte, das Dumme war nur, daß noch kein System das Ganze, oder zumindest einen Teil des Ganzen, erfaßt hatte, eher im Gegenteil, je länger die Bibliothek bestand, desto komplizierter wurden die Systeme, desto zahlreicher die Bücher, so daß mit jedem Jahr, ja mit jedem Monat an dem unendlich sich verzweigenden Bücherbaum neue, jedoch bereits überfüllte Gestelle ausschlugen, über den Barocksaal ms Unendliche weiterwuchernd, unter das Dach hinauf, in die Keller hinab, Bücher Bücher Bücher, Abertausende von Titeln, niemals zu bewältigen, niemals zu katalogisieren, weshalb ein Vorgänger des Onkels, vermutlich eine dieser hageren, geierhalsigen Varianten, die im Eßzimmer hingen, eine Sentenz von Augustinus unter die Normaluhr an die Wand gepinnt hatte, selbstverständlich in Latein: »Und sollte dich der letzte Tag nicht als Sieger finden, finde er dich wenigstens als einen, der gekämpft hat.«
    Anders als Mama, die ihre Finger wie ein Ballett aus roten Lackschühlein über die Tasten ihrer Schreibmaschine tanzen ließ, klopften die Trübsaltrommler im Höchstfall ein Dutzend Buchstaben auf ihre Karteikarten, und fast nie erklang das lustige Klingelzeichen, das herrliche Pling!, das das Ende einer Zeile meldet. Über ihren Maschinen wurden sie alt und krumm. Oft dösten sie. Keine Sieger. Nicht einmal Kämpfer. Der letzte Tag fände sie als Leichen, ausgezehrt von der totalen Sinnlosigkeit ihrer Tipperei. Allerdings hatten sie auch eine andere Seite, diese Herren! Kaum war der Onkel aus dem Haus, bissen sie von ihren Schnapsflaschen die Korken ab und soffen den Klaren wie das Braunvieh Wasser. Und noch eine Eigenart hatten sie, doch war mir diese erst jetzt, da ich mich für den verwunschenen Geschlechtsnamen interessierte, aufgefallen. Die Hilfsbibliothekare haben das unausgesprochene Verbot immer wieder verletzt. Katz, flüsterten sie, hat Schiß vor der Stark, Katz ist verkatert, Katz
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