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Fraeulein Stark

Titel: Fraeulein Stark
Autoren: Thomas Huerlimann
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hier und Katz da, doch wagten sie das nur, wenn sie den Stiftsbibliothekar in einer sicheren Entfernung wußten, hielten sogar dann die Hand vor den Mund und haben das Wort kaum ausgesprachen, eher gehaucht: Katz.
    Katz! Es ging mir mit diesem Geschlecht wie mit dem Dunkel unter den Röcken -fremd war es und voller Reize.

15
    Sicher, bei den ganz Dicken und den ganz Dünnen gab es hin und wieder ein kleines Problem, ei guck, dieses Ferkel, hatte eine gerufen, eine andere, die Knie zusammenpressend, war x-beinig zurückgewichen, aber das waren Ausnahmen, kaum der Rede wert, wer eine Stiftsbibliothek besucht, hat in der Regel eine bürgerliche Erziehung hinter sich und weiß, was sich gehört. Zudem waren die meisten aus grauen, im Krieg zerbombten Städten angereist, aus Ulm, Darmstadt oder Friedrichshafen, und erschauerten in staunender Ehrfurcht vor der unerwartet grandiosen Bilder- und Bücherpracht, die sich wie eine stumme Brandung vor ihnen aufwarf. Merkten sie nichts? Oh, sie merkten es schon, jedenfalls die Schöneren unter ihnen, aber im Angesicht des Bücherhimmels, der ihnen mit sanfter Gewalt die Lippen öffnete, waren sie gnädig bereit, nicht nur die klumpigen
    Pantoffeln zu akzeptieren, sondern auch den Ministranten, der zu ihren Füßen seines Amtes waltete. Danke, mein Junge.
    Die nächste bitte!
    War ich verzeigt worden; Vermutlich ja, denn unmittelbar nach einem unbedeutenden Zwischenfall, der hauptsächlich aus dem Gezeter einer Wuchtbrumme bestanden hatte, waren die schönen Tage von Aranjuez, wie der Onkel gesagt haben würde, vorbei. Aus dem Fräulein, die wie eine Heilige in ihrer Derriérewolke saß, war zum zweiten Mal die Stark geworden, vor der die ganze Bücherarche in Ehrfurcht erstarrte. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Monsignore»
    Worum gehts?
    Um den Buben.
    Schon wieder!, stöhnte er. Was hat er diesmal angestellt?
    Aber das Fräulein ließ sich Zeit. Hat es den Herren nicht
    geschmeckt, fragte sie scheinheilig, war der Braten zu fett?
    Pulcher et speciosus, lobte der Onkel, schön und herrlich. In medias, zur Sache!
    Sie nahm die Terrine vom Tisch, und es dauerte lange, quälend lange, bis sie es endlich schaffte, ihren Satz herauszubringen:
    Monsignore, es hat eine Reklamation gegeben.
    Er hob die linke Braue, ich auch.
    Eine Reklamation», fragte der Onkel.
    Von einer Wagner-Sängerin aus Linz, Fräulein von Zedlitz, Sandgasse 6, sagte die Stark, und da ihre appenzellischen Jagdäuglein nach wie vor auf die Bratenterrine gerichtet waren, hätte man meinen können, sie brauche nur den Deckel zu heben, um die Anklägerin als fette Fleischdampfwolke herauszulassen. Über den Buben hat sie sich beschwert, und zwar in deutlichen Worten! Er habe
    doch das konnte sie nicht laut sagen, das mußte sie Monsignore ms Ohr züngeln, wobei sie die Terrine, um diese nicht gegen seine Schulter zu stoßen, seitlich von sich wegstreckte.
    Er hörte reglos zu. Dann tupfte er mit der Damastserviette das hektisch beflüsterte Ohr ab und sagte: Mein lieber Nepos, wir sind eine Stiftsbibliothek und dürfen voller Stolz behaupten, daß wir die prächtigsten Schätze des Morgen-und Abendlandes an Bord haben, unter anderem auch die hochinteressanten Überlegungen des Philosophen Kant über die Sittlichkeit, deren Kriterium ja nicht, wie man erwarten würde, im Erfolg des Handelns besteht, vielmehr in der Beschaffenheit der Gesinnung, also im Willen selbst, was heißt, daß ein Mensch, insbesondere ein junger Mensch, strebend bemüht sein soll, seine Neigungen hintanzustellen…
    So oder ähnlich ging es noch eine Weile weiter, von Kant kam er aufAugustinus, von Augustinus auf Afrika, von Afrika auf Ägypten und damit auf die Inschrift des Diodorus Siculus: Psychesiatreion.
    Seelen-Apotheke, übersetzte ich.
    Recte dicis.
    Das bedeutet, fuhr ich fort, wir führen alle Leiden und jedes
    Mittelchen dagegen, von Aristoteles bis Zyste. Nomina ante res, die Wörter zuerst!
    Sehen Sie, Fräulein Stark? Ecce nepos, er schlägt ganz nach mir.
    Über seine gelehrten Ausführungen hochzufrieden, steckte er die gerollte Serviette in den Silberring und ging dann, wie jeden Abend, in sein Studierzimmer hinüber. Ich nickte dem Fräulein zu und folgte dem Onkel.

16
    Hier, im sogenannten Studierzimmer, das er sich als bunte Plüschhöhle eingerichtet hatte, fühlte er sich am wohlsten. Hier empfing der Stiftsbibliothekar die Gelehrten aus aller Welt, hier verbrachte er die Abende, hier oblag er, wie er sagte,
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