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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Autoren: Louise Jacobs
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Gefahr erneut und erkennt, dass der Traktor ruckelnd hinter dem Hügel verschwindet.«
    Ich habe in dem Beispiel die Insekten ausgelassen, den Geruch vom Gras, dem Pferd, die Wärme der Sonne auf meiner Haut. Wie sieht die Landschaft aus, in der das Pferd steht? Und so weiter. Ich kann die Bilder gar nicht alle auf die Schnelle erfassen, die beim Lesen auftauchen und wieder verschwinden. Vielleicht kann man es vergleichen mit Folgendem: Man spielt einen Ausschnitt aus der Ouvertüre von La Belle Hélène ab, lässt die Musik ein paar Sekunden laufen und drückt auf Pause. Nun soll man all die einzelnen Instrumente benennen, die man gehört hat, jede einzelne Note aufzählen, die Melodie in ihrer Fülle versuchen nachzuerzählen. So geht es einem in Bildern denkenden Menschen, wenn er sich Satz für Satz in einem Text vortastet. Er muss sich an den Worten festklammern, da die Bilder in beliebiger Reihenfolge durch das Gehirn jagen. Das führt beim lauten Vorlesen zur völligen Überforderung und Desorientierung. Das Gehirn sieht nicht mehr, was die Augen sehen. Es sieht, was die Person gerade denkt. Das Gehirn hört nicht mehr, was die Ohren hören, sondern es hört, was die Person gerade denkt. Es fühlt nicht den Körper, sondern es fühlt, was die Person gerade glaubt zu fühlen. Das fortgeschrittene Stadium dieser Desorientierung ist Autismus.
    Heute habe ich keine Probleme, Texte zu lesen. Schwierig wird es erst beim Bankgespräch. Denn wie soll ich mir folgenden Satz in Bildern vorstellen: »Unsere Performance reflektiert die Entwicklung des jeweiligen Strategiedepots der fünf Sparkonten seit 2008.«
    Bei unsere sehe ich uns hier beisammensitzen. Den Bankberater und mich. Hat er eine Frau? Ist er glücklich? Singt er unter der Dusche? Bei Performance sehe ich einen Sportler, der gerade eine Bestzeit geschwommen ist und jubelnd seinen Arm in die Höhe reckt. Bei reflektiert sehe ich mein Bild in einem Spiegel, das Abbild des Narziss auf der Wasseroberfläche. Die ist ein Wort, zu dem es kein Bild gibt, daher lassen es Legastheniker beim lauten Lesen auch oft aus oder vergessen es beim Abschreiben des Satzes ganz. Des und jeweiligen lösen ebenfalls kein Bild aus. Entwicklung löst eine Zeitrafferaufnahme eines Baumes im Sommer, Frühling, Herbst und Winter aus. Bei Spar sehe ich einen Bettler auf der Straße, der seine Centstücke im Plastikbecher schüttelt. Das Konto ist ein Fach mit Wänden aus dickem Stahl. Bei seit 2008 überlege ich, was denn seit 2008 alles passiert ist in meinem Leben, und bis ich mit alldem fertig bin, legt mir der Bankberater das Formular zur Unterschrift hin, und ich weiß überhaupt nicht mehr, worum es eigentlich ging.

4
    Es ist Nachmittag, vier Uhr nordamerikanische Zeit.
    Für Anfang Oktober ist es sommerlich warm, Indian Summer, der Himmel leuchtet wasserblau. Die Temperaturen schwanken zu dieser Jahreszeit zwischen minus 15 Grad in der Nacht und plus 25 Grad am Tag. Ich nehme meinen Koffer vom Gepäckförderband und gehe nach draußen auf den Parkplatz vor dem Bostoner Flughafen. Ungelenk schiebe ich den Koffer neben mir her über die Bordsteinkante. Das Handgepäck hängt auf meiner Schulter, die Jacke habe ich über den Unterarm gelegt.
    Dort steht Francis. Er ist der Verwalter von Birch Hill und der Kopf eines kleinen Teams aus Jim, vier Frauen und den Saisonarbeitern, das rund ums Jahr für Birch Hill zuständig ist. Auf der Farm wird Ahornsirup und Heu produziert, das Fleisch der Schafe wird an Restaurants und andere Abnehmer in der Umgebung verkauft. So versucht sich die Farm mittlerweile selbst zu tragen.
    Francis’ Schatten liegt auf dem Asphalt des Parkplatzes. Nebeneinander parken die schwarzen Limousinen, ihre Chauffeure stehen mit dunklen Sonnenbrillen jeweils an der Kühlerhaube oder am Kofferraum lehnend daneben. Francis sticht aus den anderen wartenden Männern in schwarzen Anzügen hervor, da er seine grüne Steppjacke und Khakihosen trägt. Ich will ihn in den Arm nehmen, doch ich zögere, und so gibt er mir seine rechte Hand und klopft mir mit der Linken liebevoll auf den Rücken. »Ich habe dich ein bisschen vermisst.«
    »Erzähl mir keinen Quatsch.«
    Francis ist Ire, hat aber diese klassischen Gesichtszüge: herb, nobel, mit einem vornehmen Witz in den wasserblauen Augen. Er lacht sehr viel, auch jetzt lacht er, dabei legt er seinen Kopf zurück und guckt mich dann wieder an. An den Mundwinkeln entstehen für Sekunden tiefe Furchen, an den Augenwinkeln
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