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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Autoren: Louise Jacobs
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wurde nicht politisch verfolgt, wir mussten nicht vor Krieg flüchten, ich musste nie Hunger leiden. Ich wuchs in einer Familie auf, in der großer Wert auf Harmonie und Ordnung gelegt wurde. Und doch wollte ich irgendwann nur noch eines: weg.
    Die ersten sieben Jahre meines Lebens sind geprägt von der dörflichen Struktur des Ortes, in dem ich aufwuchs. Es standen noch Bauernhäuser mit Fachwerk im Dorf, auf den Fensterbrettern rote Geranien. Es gab einen Dorfplatz mit einem Süßwarenladen und eine Zoohandlung mit Hasen im Schaufenster. Ich lief zu Fuß zum Kindergarten und nutzte Schleichwege durch fremde Gärten als Abkürzung oder Erweiterung der Strecke. In unserem Dorf gab es keine Gefahren, keine Nöte. Was auch immer eine Kindheit zur glücklichen Kindheit macht, es fiel mir zu.
    Und doch: Dort, wo ich geboren wurde, habe ich mich nie heimisch gefühlt. Wir wuchsen nicht in die Tradition eines Zunfthauses rein, haben beim Sechseläuten nie auf dem Balkon bei Sprüngli gestanden, und mein Vater ritt auch nie um den gigantischen Scheiterhaufen herum, während ein Schneemann aus Papier zum Ende des Winters auf dem Sechseläutenplatz in Zürich von Flammen zerfressen wurde. Wir waren Fremde in dem Land, in dem wir lebten. Mein Vater stammt aus einer Bremer Bauernfamilie, die sich im Lauf der Zeit als Unternehmerdynastie einen Namen gemacht hat. Die Familie meiner Mutter hat sephardisch-jüdische Ursprünge; ihre Spuren führen zurück bis ins 15. Jahrhundert, nach Portugal.
    In Zürich kam ich mir, ohne von diesen Ursprüngen zu wissen, immer so vor, als sei ich angeschwemmt worden, wie Treibgut. Und nachdem ich der Schweiz einmal den Rücken gekehrt hatte, wollte ich mich nicht mehr umsehen, und ich habe nie die Sehnsucht verspürt zurückzukehren.

2
    Es ist Ende September, ich überquere den Ozean, um mal wieder alles hinter mir zu lassen. Ich will mich von der Gegenwart trennen, mich in den zeitlosen Raum der Reise heben lassen und in der Fremde abgesetzt werden. Vielleicht ist es auch einfach eine Flucht. Obwohl mich weniger das Verlangen danach treibt, alle Seile zu kappen, als vielmehr ein großer Trotz und eine tiefe Verzweiflung darüber, immer mithalten zu müssen. Ich stamme aus einer Welt, in der ich nie gut genug war, und fliehe in eine Welt, in der es keine Maßstäbe gibt.
    Ich sehne mich nach endloser Stille.
    Wenn diese Sehnsucht unerträglich wird, verfalle ich in ein wiederkehrendes Handlungsmuster: Koffer packen und ab nach Vermont. Als könnte ich damit aus dem einen Film austreten und in einem anderen weiterspielen. In Vermont habe ich nichts mit meinem Leben zu tun. An diesem Ort wird mir alles verziehen, ich brauche mit niemandem umzugehen, ich brauche keine unerwiderten Gefühle niedezukämpfen. Ich wanke mit letzten Kräften in den Wald und lasse mich fallen. Vermont ist eine Droge, die mich über die Jahre abhängig gemacht hat, die mich immer wieder für dieses Muster belohnt: nicht argumentieren, einfach weggehen. Meistens bin ich traurig, verlassen, verzweifelt oder am Ende, wenn ich in Boston aus dem Flughafen trete. Meistens schleppe ich eine Haut mit nach Vermont, die ich dort ablege und begrabe. Egal, ob es die Liebe oder das Leben ist, ich bin voller nicht getroffener Entscheidungen, voller falscher Hoffnungen, voller ungelöster Konflikte, und meist suche ich in Vermont die Einsicht.
    Andere gehen dafür zur Beichte, ins Bordell oder setzen sich an den Stammtisch. Mich holt immer wieder das gleiche brennende Verlangen ein: Vermont.

    Seit Generationen besaßen die bäuerlichen Vorfahren meines Vaters Land und Hof. Wie es die Tradition vorsah, wurde beides immer dem erstgeborenen Sohn vererbt. Da weder mein Großvater noch mein Vater erstgeborene Söhne waren, bekamen sie nichts davon ab.
    In meinem Großvater hat sich die Liebe zum Land schließlich mit sechsundfünfzig Jahren wieder durchgesetzt, er baute ein Vollblüter-Gestüt in Sottrum auf, züchtete Rennpferde und kaufte Bullen und Kühe bei Versteigerungen im Umland ein. Er liebte das Landleben und fuhr noch mindestens dreißig Jahre lang täglich um 16 Uhr und an den Wochenenden auf das Gestüt.
    Mein Vater entdeckte während seiner beruflichen Tätigkeit in New York den Staat Vermont. Nur vier Autostunden von der Metropole entfernt fand er hier die stehengebliebene Zeit. Er lernte das Neuengland mit seinen ochsenblutrot gestrichenen Scheunen und den Country Stores kennen, die zugleich Fischlizenzen, Waffen,
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