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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Autoren: Louise Jacobs
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2–1.
    Seufzen.
    Ich begriff gar nichts.
    Also noch mal von vorne. Und so ging das stundenlang.
    Erstaunlicherweise wirkte ich, laut Protokoll, dabei aber immer noch fröhlich. Ich würde sogar in der Klasse mitmachen! Was als Erfolg für die Therapie verbucht wurde. Sie wurde fortgesetzt.
    Meine Mitschüler gingen auf Klassenfahrt, während ich Kugeln auf einem Draht von rechts nach links schob. Im Klassenzimmer hingen die Zeichnungen und Malereien der Schüler – nur meine Zeichnungen fehlten.
    Ich konnte Gehörtes nicht in Geschriebenes umsetzen. Man empfahl, dies noch einmal abzuklären – diesmal in der klinischen Logopädie. Meine Mutter setzte sich mit mir ins Kinderspital in Zürich ins Wartezimmer. Die Wände waren beklebt mit bunten Punkten und Clowngesichtern, lauter fröhlichen Dingen. Zwischen Kasperlefiguren und Holzpyramiden fieberten wir der Diagnose entgegen, die endlich darlegen würde, welchen Knopf man drücken musste, um die Maschine Louise endlich zum Laufen zu bringen. Es folgte eine ganztägige Untersuchung.
    Das Ergebnis: Ich hatte eine normale Hörschwelle. Die im Vordergrund stehende Lernstörung ist vorwiegend auf eine weitgehend intelligenzunabhängige Schwäche des sprachlautlichen Gedächtnisses zurückzuführen. Aus der klinisch-logopädischen Sicht wurde empfohlen, während des Operierens mit Zahlen laut mitzusprechen, da durch das laute Denken eine akustische und artikulatorisch-taktil/kinästhetische Rückmeldung stattfände.
    Ich fand das total albern. Laut mitsprechen beim Rechnen, dafür schämte ich mich, da somit jeder meine Fehler hören konnte. Die Untersuchung enttarnte auch eine auffallend verkrampfte Stifthaltung. Beim Schreiben würde ich starken Druck auf den Stift ausüben. Zudem verdeckte der Daumen die Stiftspitze. Eine Kontrolle des Geschriebenen sei so nicht möglich. Aus Sicht des Arztes war im schreibmotorischen Bereich somit ein zusätzliches, leichtes Defizit vorhanden. Er empfahl, diesen Bereich bei der Therapie stärker zu berücksichtigen. Dieses krankhafte Stifthalten hieß in der logopädischen Fachsprache: Dysgraphie.
    Ebenfalls kam nach dieser Untersuchung zu meiner Links händig keit auch eine Links äugig keit hinzu. Die vom Arzt empfohlene Maßnahme war der Besuch einer Sehschule, was meine Eltern gleich in die Wege leiteten.
    Während der Rest meiner Klasse Wandertag hatte und durch den Wald streunte, saß ich einen ganzen Nachmittag in St. Gallen bei einem alten Arzt in weißem Kittel auf einem Stuhlungeheuer. Auch er schrieb nach meinem Besuch einen unglaublich komplizierten Befund mit Sätzen wie »pos. möglich alt Fix.Licht zeitw. Hg od« und dem wenig erhellenden Ergebnis: »Therapievorschlag: Schulung in Leseschwierigkeiten und Rechenschwierigkeiten.«

    Meine Eltern verhandelten mit jedem Lehrer, jedem Direktor um mein schulisches Weiterkommen.
    Ich war zehn Jahre alt, und die Siebener-Reihe löste Angstzustände in mir aus. Wenn Frau Stein, meine Grundschullehrerin, auftrug, die Siebener-Reihe (7, 14, 21, 28 usw.) zu üben, graute es mir vor dem nächsten Morgen. Dann würde es wieder heißen: bitte zwei Gruppen bilden. Diese gegnerischen Mannschaften stellten sich hintereinander in zwei Reihen vor der Tafel auf. Frau Stein sagte: »Drei mal sieben!«, und der, der das Ergebnis zuerst herausschoss, durfte sich bei seiner Gruppe wieder hinten anstellen. Die Gruppe, in der der Vordermann zuerst wieder an die Reihe kam, hatte gewonnen. Ich und Christoph (der auch nicht rechnen konnte) wurden immer auf beide Mannschaften aufgeteilt, sonst war es nicht fair, da klar war, dass die Gruppe mit Christoph und Louise niemals gewinnen konnte.
    Distanzen, Maßeinheiten, die Stunden und Minuten, alles, was mit Zahlen zu tun hatte, verwirrte mich. Zwischen einem Kilometer und drei Metern bestand für mich kein Unterschied. Sagte man mir aber: »Das ist etwa so weit wie zehn große Schritte«, konnte ich die Distanz sofort einschätzen. Beim Gewicht erging es mir gleich – Gramm, Kilo und Tonnen konnte ich nur einschätzen, wenn sie mit einer bestimmten Anzahl von Mehlsäcken oder Elefanten verglichen wurden. Das Gewicht von einem Elefanten konnte ich mir vorstellen, man brauchte einen Kran, um ihn hochzuheben, das musste schon ziemlich schwer sein.
    Manchmal blieb ich auf dem Nachhauseweg von der Schule an dem Süßwarenladen im Dorf hängen. Wenn ich gerade etwas Taschengeld bei mir hatte, bat ich die Dame, das Geld, das ich ihr in die Hand legte,
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