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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Autoren: Liao Yiwu
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groß geworden, da hat das einen sehr tiefen Eindruck auf mich gemacht.
    LI CHANGGENG:
    Herr Liao, Sie sind ein Fachmann, aber von Marktwirtschaft verstehen Sie nicht viel. Mein Dorf ist von Jiangyou nicht viel mehr als zwanzig Kilometer entfernt, und es ist gut zu erreichen – wenn in einer Familie also jemand stirbt, braucht man nur zum Telefonhörer zu greifen, und im Handumdrehen steht eine Truppe vor der Tür, die das Totenzelt aufbaut, geliehene Blumenkränze, Musiker, Sänger und Trauerzug, alles inklusive … ein Rundumpaket.
    Auch bei einer Leiche geht es hoch her, früher musste man noch einen Mönch hinzubitten, der die Sutren las und die Riten vollzog, während die Musiker die Söhne oder den Sohn bei seiner Ehrenbezeugung begleiteten. Heute veranstaltet man einen musikalischen Abend, da werden Lieder gegrölt, die gerade in Mode sind, und Verwandte und Freunde singen für den Verstorbenen um die Wette. Es gibt Lieder genug, man muss nur den ursprünglichen Text ändern, schon tobt der Saal.
    Das geht bis zum Leichenzug, wo auch nicht mehr die Söhne den Sarg tragen. Dafür hat man einen Autokorso und westliche Blaskapellen. Wenn die großen Lautsprecher aufgedreht werden, dann weiß jeder in einem Abstand von mehreren Kilometern, dass jemand gestorben ist.
    LIAO YIWU:
    Wenn die Lage so ernst ist, wie verdient Ihr dann Euren Lebensunterhalt?
    LI CHANGGENG:
    Man muss von den Städten weg, weit weg und in den Bergen irgendwie sein Auskommen suchen. Das ist sehr schwierig, denn es sagt einem ja keiner vorher, wo eine Hochzeit oder eine Trauerfeier ansteht. Ach, und wenn man alt wird, fällt es nicht mehr leicht, aus der Türe zu gehen.
    LIAO YIWU:
    Habt Ihr keine Schüler?
    LI CHANGGENG:
    Früher hatte ich eine ganze Reihe von Schülern, die haben alle den Beruf gewechselt, heute ist alles anders, keiner will mehr die Suona lernen.
    LIAO YIWU:
    Wenn Ihr nicht so weit weg wärt, würde ich bei Euch in die Lehre gehen. Großvater, könntet Ihr mir Eure Geschichte erzählen? Über Eure Jugend und die guten Jahre?
    LI CHANGGENG:
    Meine Geschichte? Was soll ich da erzählen? Naja, gute Jahre habe ich gehabt, und nicht zu knapp, auch wenn es lange her ist. Für junge Leute war der Musikerberuf früher nichts Ehrenrühriges. Söhne aus reichem Hause schauten zwar auf uns herab, aber nur, weil sie den Wert der Dinge nicht kannten.
    Der Ahnherr unseres Berufes ist nämlich niemand Geringerer als der weise Konfuzius selbst! In jungen Jahren hat er, um seine Mutter zu ernähren, für die Leute nicht nur die Suona geblasen, er legte auch Trauerleinen an, wenn jemand gestorben war, trug den Sarg und stimmte die Klagelieder an. Deshalb verehrt man in den Häusern der Musiker die Ahnentafel des Weisen.
    LIAO YIWU:
    Heißt das, Ihr spielt bei solchen Anlässen nicht nur die Suona, sondern müsst auch Klagelieder singen?
    LI CHANGGENG:
    Natürlich.
    LIAO YIWU:
    Aber wie habt Ihr das geschafft? Ihr habt selbst noch niemanden aus Eurer Familie zu betrauern gehabt und doch schon für andere Klagelieder gesungen?
    LI CHANGGENG:
    Das ist der Beruf. Das ist wie im Film, man spielt und spielt und wächst in die Rolle hinein. Was beim Film die Rolle, ist bei den Klageliedern die Melodie. Als ich die Suona lernte, war ich gerade einmal zwölf Jahre alt. Die Suona passt sehr gut zu den Klagemelodien. Mein Lehrer hielt mich an, immer und immer wieder zu üben. Wenn man die Grundlagen beherrscht, ist die Wirkung bei den entsprechenden Anlässen wirklich erstaunlich, man wirkt echter als die eigentlichen Trauernden. Das war zur Zeit des Bürgerkriegs zwischen den Kommunisten und der Guomindang, Flüchtlinge überfluteten das Land, aber im Gegensatz zu ihnen floh ich nicht von den Orten, wo es Tote gab, ich suchte sie regelrecht.
    Ich stamme aus Henan, Sie haben es sicher an meinem Akzent gehört.
    Ach, es ist nichts mehr wie früher, alles hat sich verändert!
    Ich war sechzehn, als wir nach Sichuan kamen. In Sichuan war es besser als in der zentralen Tiefebene, da gab es keine Kämpfe, und die Hochzeits- und die Trauerfeiern waren sehr aufwendig. Es hat nicht lange gedauert und ich hatte mir einen Namen gemacht.
    Wie in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts auch war es damals Mode, sich zusammenzuschließen, mein Vater war der Chef der Truppe. Ursprünglich war er ein Sänger der Henan-Opern gewesen, und mein Lehrer spielte die Suona.
    In der zentralen Tiefebene brannten für Jahre die Flammen des Krieges, das Volk hatte nichts
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