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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen
Autoren: Philipp Hübl
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Kaninchen jedenfalls ist schon im Morgengrauen wach und schlägt bei Sonnenaufgang seine Haken.

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    Kapitel 1 Fühlen Die Vernunft des Bauches
    Wir können nicht mehr zusammen sein, sagte sie. Ich verstand überhaupt nichts. Dann weinte sie, und plötzlich verstand ich alles. Ich erschrak. Ich wollte auch weinen, doch ich konnte nicht. Ich war sprachlos … Mir ging es schlecht, doch es fällt mir schwer, genau zu beschreiben, wie sich das anfühlte. Es war kein Schlag in die Magengrube. Aber irgendwo im Brustkorb spürte ich ein flaues Ziehen, als ob der Herzschlag für einen Augenblick aussetzt. Zuerst hoffte ich, dass sie nur einen Scherz machte, obwohl ich längst wusste, dass es keiner war. Dann wurde ich wütend. Was findet sie an dem anderen?
    Therapeuten sagen, bei einem Verlust ginge man durch mehrere Phasen: Schock, Verneinung, Wut, Traurigkeit und Akzeptanz. Die letzte Phase kam nie. Am Ende blieb nur die Sehnsucht: nach ihrem Duft, ihren neugierigen Augen, ihrer Wärme. Ich war verletzt, enttäuscht und eifersüchtig: Der andere würde sie jetzt küssen.
    Es gibt kein typisches Gefühl des Verlassenwerdens, aber viele Gefühle, die es auslöst: Erschrecken, Angst, Eifersucht, Enttäuschung, Sehnsucht und vor allem Traurigkeit. Unsere Gefühle packen uns schnell und unmittelbar, wir erleben sie oft heftig, und sie sind typischerweise von kurzer Dauer: Nur selten halten Wut und Freude auch lange an. Gefühle sind außerdem Widerfahrnisse: Wir können sie normalerweise nicht willentlich hervorrufen oder abschalten, sondern sie stoßen uns zu. In alten Texten heißen sie deshalb auch «Leidenschaften», weil wir sie im alten Sinne des Wortes passiv «erleiden». Natürlich lernen wir, mit unseren Gefühlen umzugehen. Wir können tief durchatmen und uns beruhigen, wenn wir die Wut in uns aufsteigen spüren, und wir können uns klarmachen, dass unsere Angst unbegründet ist. Aber das ungewollte Element bleibt. Selbst der Schauspieler, der sich vor der Kamera seine schmerzlichen Erlebnisse so in Erinnerung rufen kann, dass er wirklich traurig wird, ist in diesem Gefühl dann gefangen.
     
    Gefühle sind seit etwa zwanzig Jahren eines der meistdiskutierten Themen in der Neurologie, Psychologie und in der Philosophie. Die wissenschaftliche Begeisterung für Gefühle entbrannte erstaunlich spät, wenn man bedenkt, wie sehr sie unser Leben bestimmen. Viele Forscher sprechen von «Emotionen» statt von «Gefühlen». Ich verwende diese Ausdrücke gleichbedeutend. Oft ist allerdings eine sprachliche Genauigkeit wichtig, weil wir uns im Deutschen mit dem Wort «Fühlen» auf mindestens drei unterschiedliche Erlebnisse beziehen: Wir fühlen die Wut in uns aufsteigen, wir fühlen uns manchmal niedergeschlagen, und wir fühlen den Grashalm an der Nasenspitze. Wut ist ein
Gefühl
im Sinne einer
Emotion
, Niedergeschlagensein ist eine
Stimmung
, und das Kitzeln ist eine einfache
Körperempfindung
.
    Während wir Empfindungen wie Kitzeln, Hunger oder Schmerz direkt am Körper spüren, sind Stimmungen und Gefühle komplexer: zwar allgegenwärtig, aber schwer zu fassen. Stimmungen wie Unbehagen oder Gereiztheit unterscheidet man traditionell von Gefühlen, denn Gefühle haben einen direkten Bezug zu ihrer Ursache: Wir sind eifersüchtig
auf
andere oder freuen uns
über
die Sonnenblumen. Man kann nicht einfach so eifersüchtig sein oder sich einfach so ärgern. Bei Stimmungen ist das anders: Wir können den ganzen Tag niedergeschlagen oder nach dem Sport beschwingt sein, ohne dass uns die Ursache präsent ist.
    Stellen Sie sich vor, der schlechterzogene Dobermann des Nachbarn steht plötzlich ohne seinen Maulkorb knurrend vor Ihnen. Dann werden Sie das typischste aller Gefühle erleben: Angst. Einige Philosophen konstruieren zwischen den Wörtern «Angst» und «Furcht» einen künstlichen Unterschied, aber in unserer Alltagssprache gibt es keinen, allenfalls dass «Furcht» etwas altertümlich klingt. Angst hat wie alle anderen Gefühle mindestens fünf typische Eigenschaften. Erstens den erwähnten
Bezug
: Man hat immer Angst vor etwas, zum Beispiel vor dem Hund. Zweitens eine automatische
Einschätzung
der Situation: Die Angst lässt den Hund gefährlich erscheinen. Drittens ein
Erleben
: Angst empfinden wir anders als etwa Zorn oder Freude. Viertens einen spezifischen
Gesichtsausdruck
: Unsere Augen weiten sich, die Lippen strecken sich geradlinig zu den Ohren, und das Kinn wandert zum Hals. Fünftens
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