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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen
Autoren: Philipp Hübl
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alle möglichen Positionen aufgelistet sind, sondern eine, in der die guten Argumente im Vordergrund stehen.
     
    In der Oberstufe haben wir in vielen Fächern philosophische Texte gelesen. Mich hat das begeistert, aber die geballte Wucht an grauer Theorie war sicherlich für zwei Irrtümer verantwortlich, denen ich damals aufsaß. Zum einen die Auffassung, dass ein Text umso «tiefsinniger» sei, je dunkler und unverständlicher er mir zuraunte. Im Studium zeigte sich bald, dass die Unverständlichkeiten oft nicht von mir, sondern von den Texten abhingen, und dass die vermeintlich «tiefen Weisheiten» entweder Banalitäten oder Unsinn waren.
    Der zweite Irrtum: Ich glaubte, dass ich durch das Philosophiestudium einen Vorhang zur Seite ziehen und so in eine ganz neue Welt eintauchen könnte. Doch als Philosoph entdeckt man kein fremdes Wunderland, man sieht allenfalls die bekannte Welt klarer, zum Beispiel, indem man lernt, dass die Metaphern des «Vorhangs» und der «verborgenen Weisheiten» aus Platons Ideenlehre stammen, einer einflussreichen, aber unhaltbaren Theorie des Wissens. Tatsächlich ist da keine verborgene zweite Welt. Die Wirklichkeit ist das eigentliche Wunderland.
     
    Gute Philosophen streben in ihren Texten nach einem Ideal von Klarheit und Verständlichkeit. Dafür setzen sie ihre sauber geputzten Begriffsbrillen auf. Manchmal gehen sie mit der Lupe ganz nah ran. Und manchmal arbeiten sie mit dem Weitwinkelobjektiv, um die großen Zusammenhänge in den Blick zu nehmen.
    Dabei dürfen die begrifflichen Linsen den Blick nicht trüben. Viele nämlich, die sich intensiver mit einem Denker beschäftigen, fühlen sich nicht nur in dessen Vokabular und Gedankengängen heimisch, sondern nehmen auch immer nur eine Perspektive ein. Durch Nietzsches Sonnenbrille beispielsweise sieht die Welt düster aus, und mit Freuds pinker Brille auf der Nase entdeckt man überall Rosiges. Dieser Versuchung muss man widerstehen. Dann darf man auch sehenden Auges Bewegungsmetaphern für das Denken und visuelle Metaphern für das Wissen verwenden.

Staunen oder Begreifen: Was ist Philosophie?
    Die Philosophie beginne mit dem Staunen, sagt Aristoteles, oder gar mit einem kindlichen Staunen, wie viele behaupten. Das stimmt allerdings nur, wenn man mit «Philosophie» wie die antiken Griechen «Wissenschaft» meint. Kinder sind von klein auf Forscher und bleiben es ein Leben lang, wenn es ihnen nicht abgewöhnt wird. Aber sie sind noch keine Philosophen. Die kindliche Neugierde ist eine naturwissenschaftliche. Kinder wollen wissen, wie die Welt funktioniert: Löffel fallen lassen, Geräusch, Löffel fallen lassen, Geräusch. Sie fragen, warum es dunkel wird oder wo der Wind ist, wenn er nicht weht, lange bevor sie wissen wollen, ob Gott existiert oder was Gerechtigkeit ist.
    Während die Naturwissenschaft typischerweise Warum-Fragen beantwortet wie «Warum fällt der Stein zu Boden?», «Warum teilen sich die Zellen?» oder «Warum gefriert Wasser?», stellt die Philosophie die dazu passenden Was-Fragen: Was ist Verursachung? Was ist Leben? Was ist ein Naturgesetz? An der Form der Was-Frage allein kann man die Philosophie natürlich noch nicht erkennen, aber am Ziel: Philosophen fragen nach dem Wesen der Dinge.
     
    Die Philosophie im heutigen Sinn ist eine Wissenschaft der Begriffe, also der Kategorien des Denkens, und zwar derjenigen, die so grundlegend und allgemein sind, dass wir ohne sie überhaupt nichts verstehen würden: Raum und Zeit, Sprache, Vernunft, Bedeutung, Wahrheit, Wissen, Verursachung, Objekt, Ereignis, Bewusstsein, Gut und Böse, Wahrnehmung, Handlung, Gefühl, Mensch, Gerechtigkeit, Schönheit.
    Naturwissenschaftler wollen wie Kinder wissen, warum etwas passiert. Philosophen hingegen gehen in ihrer Neugier dem Alltäglichen, schon Bekannten auf den Grund. Sie suchen das Mysterium im Selbstverständlichen. Sie fragen, wie die grundlegendsten Begriffe zusammenhängen: Kann die Zeit auch vergehen, wenn es kein Universum gibt? Muss man Vernunft haben, um sprechen zu können? Können Schmerzen oder Gefühle auch unbewusst auftreten?
    Natur- und Humanwissenschaftler wenden ihre Theorien auf Daten aus Versuchen und Beobachtungen an. Philosophen führen auch Versuche durch. Allerdings sind das Gedankenexperimente, für die man keine Apparaturen braucht. Den sauberen Unterschied zwischen Daten und Theorie gibt es in der Philosophie nicht: Jeder philosophische Gedanke oder Text kann wiederum Gegenstand eigener
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