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Flut

Flut

Titel: Flut
Autoren: Daniel Galera
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hinterhergesprungen, um nach seiner Leiche zu suchen, und als er da unten zwischen den Riffs herumschwamm, sah er ihn plötzlich mit der Harpune auf einen Zackenbarsch so groß wie ein Kalb schießen. So fanden sie heraus, dass der Gaúcho eine Naturbegabung hatte, ein Apnoiker war. Er schwamm gut, ging in jeden noch so wilden Fluss, aber dass er so lange den Atem anhalten konnte, war ihm nicht bewusst gewesen. Du hättest deinen Großvater sehen sollen damals. 1967 war er fünfundvierzig oder sechsundvierzig, vielleicht sogar siebenundvierzig, das krieg ich jetzt nicht mehr richtig zusammen, irgendwas um den Dreh jedenfalls, und seine Konstitution war unglaublich. Er hatte nie geraucht, allein beim Anblick einer Zigarette verzog er das Gesicht, und er hatte die Kraft eines Pferdes. Stark war er immer gewesen, aber zwischenzeitlich hatte er abgenommen, und trotz der üblichen Alterserscheinungen, Falten, schütteres graues Haar, und den Spuren der harten Arbeit auf dem Feld, hätte man ihn nur ein bisschen aufpäppeln müssen, und er hätte ausgesehen wie ein Athlet, mit seiner breiten, kräftigen Brust. Ein paar Wochen vor meiner Ankunft war ein Taucher ungefähr in seinem Alter, ich glaube, es war ein Offizier, an einer Embolie gestorben, als er versucht hatte, genauso lange unter Wasser zu bleiben wie mein Vater. Ist zwar schon lange her, dass ich die Geschichte gehört habe, aber wenn ich mich nicht irre, ging es um vier oder fünf Minuten.
    Und warum haben sie ihn umgebracht?
    Das kommt noch. Immer mit der Ruhe, tchê . Ich wollte dir erst mal den Hintergrund liefern. Ist doch eine gute Geschichte, oder? Doch, doch, kann man nicht anders sagen. Du hättest ihn sehen sollen damals. Es ist nicht normal, dass jemand in eine komplett andere Umgebung geworfen wird und sich so gut anpasst.
    Hast du nicht ein Foto von ihm da? Ich glaube, du hast mir mal eins gezeigt.
    Hm. Ich weiß nicht, ob ich das noch habe. Oder? Doch. Jetzt fällt mir ein, wo es ist. Willst du es wirklich sehen?
    Klar. Ich kann mich nicht an sein Gesicht erinnern, wie du weißt. Wenn ich mir das Foto ansehen könnte, während du den Rest erzählst, wäre das hilfreich.
    Der Vater steht auf, die Bierflasche in der Hand, verschwindet kurz im anderen Zimmer und kommt mit einem Foto wieder. Eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme. Sie zeigt einen bärtigen Mann, der auf einem Hocker mit einem Schafsfell darauf neben dem Küchentisch sitzt, den Trinkhalm eines Mate-Gefäßes an den Mund führt und schräg von der Seite in die Kamera sieht, offenbar hat er keine Lust, fotografiert zu werden. Er trägt Lederstiefel, die typische Pumphose der Gaúchos und einen karierten Wollpullover. An der Wand hängt ein Supermarkt-Kalender mit einem Bild vom Zuckerhut, von oben kommt das Licht durch die Kippfenster, die nur zu einem Teil auf dem Bild sind. Auf der Rückseite steht nichts.
    Er steht auf und geht ins Bad. Vergleicht das Gesicht auf dem Bild mit dem im Spiegel. Ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Von der Nase aufwärts ist das Gesicht auf dem Foto ein etwas dunkleres und älteres Abbild von seinem. Der einzig erwähnenswerte Unterschied ist der Bart seines Großvaters, und trotzdem hat er das Gefühl, ein Foto von sich selbst zu sehen.
    Ich würde das Bild gern behalten, sagt er, als er es sich wieder auf dem Sofa bequem macht.
    Der Vater nickt.
    Ich habe deinen Großvater noch ein zweites Mal in Garopaba besucht, danach aber nicht mehr. Es war Juni, und es war Kirmes, ein riesiges Fest. Es gab Musik- und Tanzaufführungen und jede Menge zu essen, gebratenen Fisch, alles Mögliche. Eines Abends kam ein Sänger aus Uruguaiana auf die Bühne, ein Riesenkerl, Mitte zwanzig. Dein Großvater verzog gleich das Gesicht. Er meinte, er kenne den Mann, er habe ihn unten an der Grenze ein paar Mal spielen gesehen, er sei ein Idiot. Ich weiß noch, dass ich ihn gut fand, erspielte energisch, machte beim Spielen einen tiefgründigen Gesichtsausdruck und erzählte zwischen den Stücken einstudierte Witze. Mein Vater fand, er sei ein Clown, er spiele viel zu mechanisch und habe kein Gefühl. Und dabei hätte man es belassen können, aber dann kam nach dem Auftritt, als der Sänger an einem Stand einen Glühwein trank, jemand auf die Idee, sie einander vorzustellen, zumal sie ja beide Gaúchos waren. Er packte den Sänger am Arm und führte ihn zu meinem Vater. Die beiden waren sich auf Anhieb unsympathisch. Später erfuhr ich, dass es um mehr als um Musik ging, aber
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