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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Autoren: Per Leo
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Form. Blickte ein letztes Mal in den Spiegel, fuhr sich mit dem Finger über die Braue, zupfte den Kragen zurecht, probierte zwei oder drei Gesichter an und huschte durch die Tür ins Wohnzimmer, wo die Gesellschaft schon Platz genommen hatte. Beim Essen schien sie verschwunden, dabei verstand sie sich nur auf die Kunst, kraft ihres Schweigens alle Blicke von sich abzulenken. Doch dann war sie plötzlich wieder da, und nun schwiegen die anderen. In unendlich gemessener Langsamkeit erhob sie sich, als erwachte sie gerade aus einem tiefen Schönheitsschlaf, setzte ein dezentes Lächeln auf, rief den um den Tisch Versammelten den Anlass der Versammlung ins Gedächtnis, hob das Weinglas und sprach den lieben Eltern einen »vonHerzen« kommenden Dank aus. Wofür, sagte sie nicht. Die derart Geehrten guckten ziemlich geradeaus. Dann senkte Großmutter kurz ihre Lider, nickte traurig und quittierte die fast übermenschliche Anspannung ihres ältesten Kindes mit einem Blick, der sagte, ja, liebe W36, wenn alle so wären wie du, dann könnte ich mich auch über dich freuen.
    Die Großeltern saßen an ihrem angestammten Platz auf dem mit grünem Samt bezogenen Sofa, direkt unter dem ovalen, mit rosafarbenen Blumen bekränzten Foto, das W38 so zeigte, wie sie im Gedächtnis der Eltern verteidigt werden sollte: nicht als das vermutlich verlorenste, sondern als das mit Sicherheit schönste ihrer sechs Kinder. Einige Monate bevor sie sich selbst tötete, so wird erzählt, habe W38 mit einem Gewehr vor dem Haus ihrer Eltern gestanden – eines dieser traumartigen Gerüchte, die darin absurd sind, dass sie eine volle Wahrheit in die Kulisse einer halben Begebenheit stellen. Wie konnte sie uns das antun, soll Großvater auf der Beerdigung gesagt haben.
    Selbst unten im Obstgarten an der Uferpromenade, den man über eine lange, mit Brettern in den Sand gezwungene Serpentinentreppe erreichte, war man der Observanz des Hauses nicht entrückt. Dabei war es ein herrlicher Ort. Im Rücken die alten Bäume der Böschung, meinte man nasse Finger zu bekommen, wenn man die Hand durch das mit einer dicken Kette verschlossene schmiedeeiserne Tor zur Weser ausstreckte. Im Uferberg gab es einen nach feuchter Erde duftenden Weltkriegsbunker, der gerade so tief versiegelt worden war, dass man die Mauer nicht mehr sehen, ihre Ziegel aber noch ertasten konnte. Doch es waren keine Spaziergänge oder Streifzüge, die uns Kinder hierher, in den entlegensten Teil des Anwesens, führten. Es waren Botengänge,um irgendeinen mühsam ausgedachten Auftrag zu erfüllen: bis zum Mittagessen noch etwas frische Luft zu schnappen; die Reife der Pflaumen zu prüfen; einen Korb mit den mandarinengroßen Walnüssen, die am Steilhang wuchsen, zu sammeln; Cousinen Gesellschaft zu leisten, mit denen einen nichts verband als das Gartenaufsuchgebot.
    Zur Straßenseite wurde das Haus von einem großen Saal begrenzt, das Magazin genannt. Seine hohen Decken, die anders als in den Wohnräumen nicht abgehängt waren, und die mit dunklem Holz vertäfelten Wände zeugten von einer Vergangenheit, in der die Bewohner des Hauses mit seiner Größe noch etwas anzufangen gewusst hatten. Den Großeltern diente das Magazin als Abstellraum, und nur alle paar Jahre einmal wurde es seiner ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben, wenn es eine große Festgesellschaft um eine lange Kaffeetafel aufnahm.
    Das Porzellanservice meiner Ururgroßmutter soll 48 Gedecke umfasst haben. Wenn es komplett zum Einsatz kam, stand die Tür des Hauses den ganzen Tag offen. Hätte es jemand darauf abgesehen, die Honoratioren des Bremer Hafenstädtchens Vegesack auf einen Schlag auszulöschen, ein versteckter Sprengsatz im Speisesaal der Weserstraße 84 wäre an einem solchen Tag das richtige Mittel gewesen. Ein Jahrhundert später hätte eine Festtagsbombe am gleichen Ort bestenfalls einen Genpool ausgelöscht. Die Großeltern luden nicht zum Fest, sie gaben ihrer Sippe ein Datum bekannt. Absagen war keine Option. Das hatte meine Mutter erfahren müssen, als sie nach unserem Umzug in den Süden eine Anreise von 800 Kilometern als unzumutbare Härte darzustellen versuchte.
    Die Bedeutung eines Festes ließ sich im Haus der Großelternnicht nur an der Zahl der Gäste ablesen, sondern auch an den anwesenden Verwandtschaftsgraden. Ostern und Weihnachten wurde meist nur im Kreis der Kinder und Enkel gefeiert; doch zu runden Geburts- und Hochzeitstagen reisten auch Geschwister, Neffen, Nichten, Cousins und
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