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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Autoren: Per Leo
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kalkuliert in der Schwebe lassend, entwendete ich meiner Großmutter, was sie mir anzuvertrauen meinte. Nachdem die letzte Kiste im Kofferraum untergebracht war, drängte es mich fort. Achtlos, fast überstürzt, verabschiedete ich mich. Großmutter kam nicht mal mehr dazu, mich zur Tür zu bringen. Ich ließ sie einfach stehen. Im hell erleuchteten Flur, zwischen lauter offenen Umzugskartons. Die Fahrt in die Bremer Innenstadt, wo meine Mutter seit der Scheidung wieder wohnte, kam mir vor wie eine Flucht. Erst auf der Autobahn, als ich nur noch eine Lichtquelle unter vielen war, die sich rasch von Vegesack entfernten, fühlte ich mich sicher.
    Wie gesagt, ich weiß nicht mehr, ob es regnete. Aber es würde passen. Nehmen wir also an, es habe geregnet.
    Nur für Augenblicke geben die Scheibenwischer die Sicht auf die Umgebung frei. Dann wieder nur Lichter, ein Schmierbild aus Rot und Weiß. Umgebung, Schmierbild. Umgebung, Schmierbild. Nirvana spielt jetzt David Bowie. Die müde Stimme singt nicht nur, sie erzählt etwas, und endlich ist da auch ein Bass oder wenigstens eine Rhythmusgitarre, die sie treibt, und die anderen Gitarren betten sie nicht mehr nur, sondern lenken und zügeln sie auch, mit Tempowechseln und mit einem Ziel. Und doch beherrscht Cobain auch dieses vorwärtsdrängende Lied – es klingt, als sei es sein letztes.
    Oh no, not me
    We never lost control
    Ich trete aufs Gaspedal, ziehe nach links, vorbei an den roten Lichtern, immer schneller, näher zum Blockland. Und dann passiert es. Irgendwo zwischen der Müllverbrennungsanlage und dem bleistiftförmigen Fallturm der Universität. Wie ein Unfall, bei dem man in den Bruchteilen einer Sekunde alles sieht. Eine Vision seines bisherigen Lebens. Nur ist es kein Unfall, und die Vergangenheit, die ich sehe, ist nicht meine eigene. Kopfgeburten und Schemen der Wirklichkeit sind nicht mehr auseinanderzuhalten. Ich rette mich auf den Seitenstreifen. Wellen weißen Lichts kommen näher, werden schnell größer, explodieren im Rückspiegel und sind plötzlich rot. Schmierig, klar, wieder schmierig, wieder klar, nochmal schmierig, nochmal klar, jedes Mal ein wenig kleiner. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er ausgespült. Und plötzlich liegt sie vor mir, die Geschichte meiner väterlichen Familie,wie ein Treibgut. Und über dem Blockland steigt das Haus auf, ihr Haus – unser Haus. Als hätte es mich auf dem Weg von Vegesack verfolgt und überholt, steht es nun am schwarzen Himmel und guckt auf mich herab. Steinern, mächtig und gelb. Wie eine nächtliche Sonne, die nichts ist als ein rätselhaftes Bild. Zum ersten Mal sehe ich es so klar konturiert von außen, und ganz allmählich rückt seine Pracht, der patrizische Reichtum, zusammen mit Großmutters kugeligem Bauernkörper. Und mit dem schwarzen Lederportemonnaie, das Großvater nach dem Öffnen endlos langsam immer wieder schüttelt, bis er schließlich ein einzelnes Geldstück herausnimmt, es noch einmal wendet und mir dann, als vollzöge er ein Sakrament, zum Kauf eines Butterkuchens überreicht. Ganz langsam hebe ich den Blick, Knopf für Knopf an Großvaters Strickjanker entlang, bis ich sein Gesicht erreicht habe. Was ich sehe, entsetzt mich: ein fremdes Lachen. Lautlos, kalt und böse.
    You’re face to face
    With the man who sold the world
    Jetzt trägt Großvater eine graue Uniform, er sitzt auf einem hellen Pferd, das in wildem Galopp über das Blockland jagt, gefolgt von einer Horde anderer Reiter – immer gen Osten. Und jetzt löst sich auch meine Anspannung. Die Beine zittern, das Gesicht heult, der Kopf ist voll von hysterischem Text. Nichts als gestanzte Wörter und pathetische Halbsätze. Dschinghis Khan! Mongolen der Moderne! Er hat sie aus der Heide geraubt! Und dann haben sie Europa verheert! Der Schrecken ihrer Zeit! Aus bestem, aus gelbem Hause! Dem Haus, das ich gerade verlassen habe.
    Noch immer steht sein Bild am schwarzen Himmel. Doch allmählich wird es schwächer. Noch immer sind in meinem Kopf nur Wörter. Aber sie tönen nicht mehr so schrill. Sie stehen herum wie Bruchstücke eines Textes, die nur ein langer Kommentar wieder verbinden könnte. Familienwappen, Humanismus, Schiffbau, Villa, Heide, Scholle, Bücher, Blitzkrieg, Sturmbannführer.
    Da komme ich also her.

2. KAPITEL
THE MAKING OF A NAZIENKEL
    Als ich Mitte Januar 1995 aus den Weihnachtsferien zurück nach Freiburg kam, versank ich in Agonie und tauchte in Panik auf. Nie zuvor hatte ein Frühling so
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