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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Autoren: Per Leo
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Sie überhaupt schon mal richtig gearbeitet? Körperlich gearbeitet, meine ich.«
    Verdammt, mit der Frage hatte ich nicht gerechnet. Du hast schon mal körperlich gearbeitet, ganz sicher, das weißt du, dachte ich, jetzt vollständig gefangen in der Prüfungsfalle dieser offenbar mit allen Wassern gewaschenen Fachfrau. Aber wo war das nochmal? Verdammt, wo war das?
    »Wissen Sie«, schickte sie hinterher, »ich komme aus einer sogenannten Arbeiterfamilie. Ich musste mir mein Studium mit Fabrikarbeit verdienen. Da stellen sich bestimmte Probleme gar nicht.«
    Nun hatte ich endgültig geschluckt, dass es hier um sie ging und nicht um mich, beziehungsweise dass ich gerade um meine letzte Chance spielte. Nun hatte ich Angst vor ihr. Die Zeit verrann. Schon begann die blonde Frau, in ihren Notizen zu blättern, da fiel es mir wieder ein, gerade noch rechtzeitig. Natürlich: Briefträger! Und Zivildienst, und Bauernhof, und Warenlager. Ein Glück, erst Blackout, und jetzt gleich mehrere richtige Antworten!
    Ihr Blick hellte sich ein wenig auf. Sieh an, deine Probleme sind also doch echt, schien er zu sagen.
    »Beim nächsten Mal möchte ich mit Ihnen über Ihre familiäre Situation sprechen«, sagte sie und öffnete mir die Tür zum Dschungel.
    Eine Woche später schien sie sich zunächst gar nicht an mich zu erinnern. Sie las in ihren Notizen herum.
    »Na gut, dann erzählen Sie doch mal von Ihrer Familie«, sagte sie, immerhin verabredungsgemäß.
    Diesmal wusste ich besser Bescheid. So viel psychotherapeutischen Common Sense besaß ich doch. Scheidung halt. Vater kürzlich Pleite gemacht. Großmutter gestorben. Kein Urvertrauen, bindungsunfähig, Beziehungen zu Frauen immer schnell am Ende.
    Während ich so vor mich hin redete, schrieb sie mit ihrer großen ungezügelten Schrift beide Seiten einer großen Karteikarte voll. Keine Nachfrage, kein Nicken, kein Blick.
    »Sie brauchen was Hochfrequentes«, sagte sie, als ich fertig war.
    Das klang gar nicht gut. Ob nicht auch Giftspritze ginge, hätte ich fast gefragt.
    »Das Problem ist, das zahlt die Krankenkasse normalerweise nicht. Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, das zahlendie nicht. Aber nur im Gespräch kommen Sie nicht weiter.«
    Das war mir allerdings auch schon aufgefallen.
    »Machen Sie Sport?«
    Ich hörte die Frage kaum, denn gerade war mir eine Idee gekommen. Vielleicht hatte ich meine familiäre Situation doch etwas zu schematisch dargestellt.
    »Da ist noch etwas. Seit einiger Zeit erforsche ich die Vergangenheit meines Großvaters. Wie sich herausstellt, war er ein dicker Nazi. Berufsoffizier in der SS. Vielleicht belastet mich das auch.«
    Eine groteske Verkehrung der Wirklichkeit war das. Eine glatte Lüge. Aber, so zeigte sich nun, eine Notlüge, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Die Therapeutin ließ ihre Karteikarten in den Schoß fallen und sah mich zum ersten Mal verständnisvoll an.
    »Lebt er noch?«
    »Nein, er ist vor zwei Jahren gestorben.«
    »Und natürlich hat er sein Leben lang geschwiegen.«
    »Natürlich. Das Übliche halt.«
    »Und natürlich will man das jetzt in Ihrer Familie nicht wahrhaben.«
    »Keine Ahnung. Aber wenn ich darüber nachdenke: Nein, bestimmt wollen die davon nichts wissen.«
    Mir dämmerte, dass das bisher einzige Mittel, das mein Leiden lindern konnte, aus psychotherapeutischer Sicht offenbar zu den wenigen akzeptablen Leidensformen zählte. Aber da war er endlich – der erste Griff an dieser glatten Nordwand.
    »Wollen Sie mir mehr von Ihrem Großvater erzählen?«
    Wollte ich? Ja, ich wollte es. Und zu meiner Überraschungkonnte ich es auch. Es war, als verträte ich todeshalber meinen Großvater auf der Couch, und ich sparte an nichts. Großbürgerliche Herkunft. Kriegstod des Vaters, problematische Kindheit, keine abgeschlossene Ausbildung. Der Idealismus der Jugendbewegung. Unstandesgemäße Ehe mit einem Mädchen von deutschem Blut und Boden. Einzige Berufe: erst Rassenprüfer, dann Chef im SS-Rasseamt. Ermittlungen wegen des Verdachts auf NS-Gewaltverbrechen. Das lebenslange Soldatentum. Flucht aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft. Untergetaucht im dörflichen Herkunftsmilieu seiner Frau, die mit Schneiderarbeiten die Familie über Wasser hält. Umkehrung der ehelichen Machtverhältnisse, Absturz in die Randständigkeit. Mit sechs Kindern in einer Wellblechhütte, Hilfsarbeiter im Heidewald, häusliche Gewalt. Dann die geduldete Rückkehr in die Villa seiner Kindheit. Subalterner Angestellter auf der
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