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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Autoren: Per Leo
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dem der Bank eintragen ließ. Als er einige Jahre später wieder gelöscht wurde, war das, als hätte man ein Versehen bemerkt.
    Wenn die bildungsbürgerlichen Leojungs gewissermaßen qua Heirat geduldete Gäste im Palast der Langemädels waren – um wie viel mehr war es die Dorfschmiedstocher Trina Dodenhoff, die 1935 die Frau meines Großvaters Friedrich Leo wurde und mit ihm seit 1958 das Hochparterre bewohnte. Hätte ihr Tod das nicht verhindert, wäre Großmutter im März 1995 wieder an ihren Geburtsort gezogen. Zu ihrer Tochter W37, auf einen Bauernhof. Zurück in die Heide. Aber auch nach Hause? Glaubt man den widersprüchlichen Aussagen, die sie in ihren letzten Monaten machte, wusste sie das selbst nicht. Dass sie in der Stadt nie angekommen sei, konnte man heraushören. Dann wieder die Angst vor dem Ende. Die Rede vom alten Baum, den man nicht mehr verpflanzt. Wenn esbei Großmutter je so etwas wie Anhänglichkeit an die Weserstraße gegeben hat, dann dürfte sie sehr spät entstanden sein. Genau wie bei mir.
    Keiner ihrer Eigentümer hatte Trina je das Gefühl geben können, dass sie in der Villa am rechten Platz war, auch ihr Mann nicht. Sie zahlte fast keine Miete. Und doch schien es, als wollte sie sich ihr Wohnrecht verdienen, indem sie sich ihres Wohnortes würdig erwies. Ihr hehrer Moralismus, all die Achs und Ohs in Kulturdingen, das demonstrative Herumblättern in Schillers Werken, Beethovens Neunte, die selbstgestickten Familienwappen – waren das nicht lauter ungelenke Versuche, sich so lange auszupolstern, bis das Haus ihr endlich passte? Und dann waren plötzlich alle, die ihr einst Eintritt gewährt hatten, tot.
    Mir scheint, als hätten wir beide, Großmutter und ich, uns erst nach Großvaters Tod zwanglos in diesem Haus bewegen können. Aber wir brauchten dazu die Gesellschaft des jeweils anderen. Sie meine, weil ich sie behandelte wie eine alteingesessene Bewohnerin, die zum Anwesen gehörte wie die Schachbrettfliesen in der Eingangshalle und der Pavillon im oberen Garten. Ich ihre, weil sie von mir nicht mehr erwartete als ein paar Stunden Gesellschaft. In den zwei Jahren, die Großvaters Tod von ihrem trennten, war Großmutter für mich jedenfalls die ideale, weil sozusagen geringstmögliche Bewohnerin des großen Hauses. Umgekehrt dürfte ich für sie das Haus mit einer gewissen Legitimität ausgestattet haben. Sie erkannte in mir einen rechtmäßigen Eigentümer, einen gebürtigen Leo, einen Erben, nicht dem Gesetz, aber ihrem Gefühl nach. So zumindest kam es mir vor.
    Über die Stunden, die wir gemeinsam dort verbrachten,lässt sich kaum etwas erzählen. Wir waren beide müde, sie ihres Alters, ich meiner Jugend. Nun ist ja Müdigkeit an sich nichts Unangenehmes. Im Gegenteil, man muss nur müde sein können. Und hier konnte ich es endlich. Die ohnehin kaum spürbare Anwesenheit meiner Großmutter verflüchtigte sich bis auf einen homöopathischen Rest, wenn sie sich nach dem Essen zum Mittagsschlaf in ihr Zimmer zurückzog. Ich ging in den Wintergarten, legte mich in den Liegestuhl, zog mir eine dicke Wolldecke bis unters Kinn und sah den Gedanken beim Verlassen des Kopfes zu. Das war die schönste Stunde, ihretwegen kam ich. Das Haus war jetzt still und scheinbar leer, ohne dass ich mich einsam gefühlt hätte. Es umfasste mich wie eine große weiche Hülle. Das unentschlossene Studium, die unverliebten Frauen, der irrlichternde Ehrgeiz, Lisa und Lyotard, all das war jetzt weit weg. Hinter den dicken Mauern war die Welt wie eingeschlafen. Die Autos auf dem Kopfsteinpflaster: ein fernes Rauschen. Dann wieder Stille. Vor mir lag eine endlose Weite aus Wiesen, Bäumen, Wasser und den Feldern des Oldenburger Landes. Das juckende Gefühl, da draußen finde irgendetwas statt, dem ich mich stellen müsse, ohne es zu begreifen, der latente Fluchtimpuls, das Gehetztsein, all das beruhigte sich. Plötzlich war es nicht nur Tag – plötzlich wärmte die Sonne, die durch die Kastanienzweige und die großflächigen, von Efeu umkränzten Fenster hereinschien. Für einige Minuten nickte ich weg, wachte wieder auf, nickte wieder ein oder auch nicht, es war egal, dann zog eine Wolke vor die Sonne, dann gab sie ihre Wärme wieder frei, eine Drossel sang, und wenn Großmutter kam, um mich zum Kaffee zu holen, stellte ich mich schlafend.
    Aber heute: nichts davon.
    Großmutters Müdigkeit hatte scharfe Konturen bekommen. In Form eines Entsetzens, das nicht aus ihrer Miene wich, und in der
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