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Flügel aus Asche

Flügel aus Asche

Titel: Flügel aus Asche
Autoren: Kaja Evert
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aus, bevor du aufbrichst.«
    Adeen kannte Rasmis Dickkopf – wenn er ihm nichts erzählen wollte, würde er auch nichts erfahren. Während Rasmi an seiner winzigen Feuerstelle hantierte, ließ Adeen seinen Blick wandern. Zwar kannte er diesen Raum genauso gut wie seine Unterkunft, aber bei jedem seiner Besuche hatte Rasmi aus selbstgebastelten Leinwänden, Farbtöpfen und Vorratsbehältern ein neues Labyrinth auf dem Boden gebaut. Überall aus den Ecken und von den Wänden beobachteten ihn die Wesen auf Rasmis Bildern, im Dämmerlicht nur schattenhafte Gestalten. Sie waren Adeens Verbündete, seit er denken konnte. Sie hießen ihn willkommen. Er liebte Rasmis Gemälde.
    »Hast du das Bild fertigbekommen, von dem du letztes Mal gesprochen hast?«, fragte er.
    »Den Steindrachen?« Obwohl sich Rasmi ruhig gab, entging Adeen der Funke nicht, der in seinen Augen zu leuchten begann. Er rieb sich das Kinn, plötzlich nervös. »Willst du ihn wirklich sehen?«
    »Ja, natürlich.«
    »Aber sei nicht zu hart zu ihm. Ich bin nicht mehr so jung, wie ich einmal war, Adeen, meine Augen werden schwächer, und meine Hände …«
    Adeen lächelte. Rasmis Aufregung rührte ihn – er war der Einzige, der die Bilder betrachtete, und er wusste, wie viel es seinem Ziehvater bedeutete. »Ich bin sicher, er wird mir gefallen.«
    »Also gut. Dort hat er sein Nest gebaut.« Rasmi schüttete die letzten Reste getrockneter Kräuter aus seiner Teedose und wies nur mit einer Kopfbewegung zu einer Leinwand, die nahe der Tür an der Wand lehnte. Um die Farbe während des Trocknens zu schützen, hing ein fleckiges Tuch darüber. Adeen trat darauf zu und hob den Stoff vorsichtig hoch, während er Rasmis Blicke im Rücken spürte.
    Überrascht hielt er den Atem an: Das Bild zeigte nicht das, was man sich in Rashija unter einem Drachen vorstellte, keine buntgeschuppte, prachtvolle Echse, die sich in den Himmel emporschwang. Dieser Drache bestand aus halb zersplitterten, kantigen Formen, die an Bruchstücke von Felsen erinnerten, so dass er aussah, als sei er über und über mit Wunden bedeckt, obwohl es offenbar nur Stein war. Er hatte keine Augen und Stümpfe, wo er Flügel hätte tragen sollen. Und obwohl Rasmis grobe Pinselstriche seinen Kopf nur angedeutet hatten, zeichnete sich auf dem verwitterten Gesicht ein Ausdruck von Kummer ab. Es war ein melancholischer Kummer, der etwas Sanftes und beinahe Freundliches an sich hatte.
    »Was ist mit ihm passiert?«, fragte Adeen. »Warum musste er so leiden?«
    Rasmi sah Adeen nur prüfend an und trug den dampfenden Becher zu ihm. »Ich wollte eigentlich noch ein paar Stücke Himmel hinzufügen«, sagte er, statt seine Frage zu beantworten, »so wie man sie sieht, wenn sich Wolken in einer Pfütze spiegeln … Aber ich hatte nicht mehr genug Farbe, nicht mehr genug Rakashwurzeln. Es gibt kein besseres Blau. Aber ich sehe, du hast sie nicht bei dir?«
    Adeen holte tief Luft. »Wegen der Rakashwurzeln … es tut mir leid, ich hatte welche gekauft, aber Charral …«
    »Ist schon gut. Du hättest sie nicht mit deinem Leben verteidigen müssen.«
    Adeen fiel es schwer, sich von dem Anblick des Drachen loszureißen. Dennoch kehrte er zu dem Schemel zurück, setzte sich und nippte an dem heißen Tee. Er schmeckte nach fast nichts und roch faulig, aber immerhin wärmte er. Adeens Gedanken begannen zu wandern … Felsen … Drachen … Flügel … Federn.
    »Heute ist es schon wieder passiert«, sagte er. »Wie vor ein paar Tagen, ich habe dir davon erzählt … Ich war in der Akademie, saß an meinem Arbeitsplatz, und auf einmal sah ich diesen Flügel.« Er suchte nach Worten. »Wie aus dem Nichts erschien er auf einem Papierbogen.« Dass er die Umrisse nachgezogen hatte, erwischt worden war und fast zur Zielscheibe für die Magierschüler geworden wäre, verschwieg er seinem Ziehvater besser.
    Rasmi musterte ihn. »Einen Flügel?«
    »Ja … wie aus schwarzer Tinte. Vielleicht bin ich wirklich nicht ganz richtig im Kopf, wenn ich so was plötzlich sehe.«
    »Das ist die Magie der Inspiration, Junge. Da ist etwas in dir, das rauswill. Und solange sie uns nicht gestatten, unsere Bilder zu malen, ist es kein Wunder, wenn man dadurch manchmal ein bisschen neben sich steht. Hab keine Angst – es ist ein Geschenk.« Er berührte Adeens Schulter. »Wenn du willst, nimm dir eine Leinwand, streich eins meiner alten Bilder über und mal, was auch immer zu dir kommt.« Dann schien er sich zu besinnen. »Leider nicht
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