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Flucht in die Hoffnung

Flucht in die Hoffnung

Titel: Flucht in die Hoffnung
Autoren: Tina Rothkamm
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dem Meer das Wetter jederzeit umschlagen
konnte. Da konnte innerhalb einer Stunde ein schwerer Sturm aufziehen. Und ich
wusste auch, was das für alle in diesem Boot bedeuten würde.
    Emira hatte sich von dem großen Schrecken zu Beginn an Bord
erholt und entspannte sich – wie alle Passagiere. In den Augen der Männer las
ich nun keine Angst mehr, sondern Neugier und vielleicht sogar Zuversicht.
Jeder von ihnen hatte seine Geschichte, und keine war glücklich. Das verband
uns. Wir wollten doch bloß … arbeiten, die Familie unterstützen, ohne Angst und
Gewalt leben. Als Familie endlich zusammensein …
    Jeder versuchte, es sich irgendwie gemütlich zu machen. Gemütlich,
dachte ich und musste fast lachen. Erträglich war das richtige Wort. Doch wenn
es so blieb, sagte ich mir, dann waren all meine Sorgen und Ängste unbegründet,
und das war es, was zählte.
    Eigentlich war es eine schöne Fahrt, auch wenn die Planken hart
waren. Ich war mit Emira mühsam auf das kleine Oberdeck geklettert, und dort
ließen wir uns die Seeluft um die Nase wehen. Plötzlich schwappte Geraune über
das Boot, als hätte eine Welle uns überspült. Ein tunesisches Militärschiff
näherte sich bedrohlich. Die Stimmung kippte. Niemand scherzte mehr. Angespannt
harrten wir der Dinge, die da kommen würden. Über Lautsprecher wurde nach dem
Namen des Kapitäns unseres Schiffes gefragt. Ich machte mich winzig klein, zog
mir die Jacke über den Kopf und bedeutete Emira, das Gleiche zu tun. Mein
ganzer Körper krampfte sich zusammen. Zu lange lebte ich jetzt schon mit dieser
Angst. Suchten die nach uns? Würden sie das Schiff stoppen? Zum Kentern
bringen? Galt meine Blockade auch zu Wasser?
    Nein, sie ließen uns passieren, schickten uns jedoch noch ein paar
gehässige Bemerkungen mit auf den Weg: »Euer Schiff ist gnadenlos überladen.
Ihr werdet untergehen. Ihr werdet nie ankommen. Ihr werdet alle jämmerlich
absaufen.«
    Es dauerte lang, bis der blaue Himmel und das blaue Meer diesen
Fluch vom Boot getrieben hatten und zaghafte Gespräche begannen. Die Männer
hielten sich an ihrer Hoffnung fest. Sie träumten von einer Zukunft in Europa
und dem Geld, mit dem sie ihre Familien zu Hause ernähren wollten. Manche
schwiegen, andere begannen zu erzählen, und so vergingen die Stunden. Ein
Mitreisender wollte in Italien bleiben, weil seine Schwester einen Pizzabäcker
geheiratet hatte, ein anderer wollte sich am Bau verdingen, um seinen vier
Geschwistern ein anständiges Leben zu ermöglichen. Ein weiterer war mit einer
syrischen Kinderärztin verheiratet, die in Paris in einer Klinik arbeitete; die
Botschaft hatte seinen Pass verloren, es würde zu lange dauern, bis er einen
neuen hätte. Es gab Studenten und Handwerker, einer schlief ständig, ein
anderer kotzte pausenlos, obwohl das Boot ruhig durch das Wasser glitt. Ich
kramte nach meinen Tabletten gegen Übelkeit, leider halfen sie ihm nicht. Dafür
halfen meine Kräuterpastillen einem anderen, der sich die halbe Lunge aus dem
Leib hustete und ständig ins Wasser spuckte.
    So verging der Tag. Als die Sonne ins Meer tauchte, wurde es kühl,
und ich packte unsere Winterkleidung aus, die ich so großzügig bemessen hatte,
dass ich auch andere Passagiere ausstatten konnte. Viele von ihnen froren
erbärmlich in ihren dünnen Jacken mit gelegentlich noch immer nassen Hosen. Der
Junge, der Emiras rosa Mützchen trug, hatte die Lacher auf seiner Seite. Wir
lachten viel zu laut und zu lang. Doch es tat sehr gut.
    Die Verpflegung war erbärmlich. Aus einer Art Riesennapf sollten wir
uns bedienen, indem wir Brot in Harissa , mit Öl
vermischte Paprikapaste, tunkten. Satt wurden wir davon nicht, aber die kluge
Mutter hatte vorgesorgt und Verpflegung eingepackt, so viel, dass ich auch den
um uns Sitzenden etwas abgeben konnte. Manche wollten nichts essen, nur
rauchen, eine nach der anderen steckten sie sich an.
    »Mama, ich muss Pipi machen«, meldete Emira sich plötzlich. Damit
hatte ich schon gerechnet. Ich wunderte mich, wie lange sie durchgehalten
hatte; ich selbst musste seit Stunden, wollte jedoch warten, bis sie auch
musste, um das gemeinsam zu erledigen. Wir hatten es nicht so leicht wie die Männer,
die in Flaschen oder über die Reling pinkelten. Mühsam bahnten wir uns einen
Weg nach unten. Der Kapitän zeigte uns einen aufgeschnittenen Wassercontainer
und hielt zusammen mit einem zweiten Mann eine schäbige Decke als Vorhang um
mich herum. Wenn ich nicht so dringend gemusst hätte,
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