Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
mit Todd ganz umgedreht hatte, war er halb leer.
    Tja. Und jetzt war er wieder hier, obwohl er kein Recht dazu hatte, er war ein Eindringling, und er wußte es, er war jetzt ein Irrer, der neue Ebenen des Irreseins definierte. Ein Notruf war in Sekundenschnelle durchgegeben – da würde sie nicht zögern –, und in weniger als fünf Minuten wäre ein Hubschrauber hier, so schnell waren diese Feuerwehrleute, sie hatte sie schon in Aktion erlebt. Fünf Minuten. Sie würde nicht zögern. Sie hielt den Kopf gesenkt. Sie schnitt und kaute jedes Stück Speck mit langsamer Entschlossenheit, und sie las denselben Absatz immer wieder, bis er jeden Sinn verlor. Als sie wieder aufsah, war er weg.
    Danach schleppte sich der Tag dahin, als wollte er nie zu Ende gehen. Der Kerl hatte sie keine zehn Minuten lang mit seinem Söldnergrinsen und den lächerlichen Blumen belästigt, aber es war ihm gelungen, ihr die Laune zu ruinieren. Er hatte ihr Gleichgewicht gestört, und sie stellte fest, daß sie weder lesen noch zeichnen, noch an Todds Pullover weiterstricken konnte. Sie ertappte sich dabei, daß sie völlig geistlos irgendeinen Punkt am Horizont fixierte, ihren Verstand treiben ließ. Sie aß zuviel. Das Mittagessen wurde zur Zeremonie, das Abendessen zum Ritual. Besucher kamen keine, obwohl sie sich ausnahmsweise nach ihnen sehnte. Die Abenddämmerung verklang allmählich im Westen, und als die Nacht hereinbrach, gab sie sich gar nicht lange Mühe mit der Propanlampe, sondern setzte sich einfach nur auf die Ecke ihres Betts und ließ sich gefangennehmen von der wirbelnden Weite der Konstellationen und vom Traum der Milchstraße.
    Und dann konnte sie nicht einschlafen. Sie mußte immer an ihn denken, an den Fremden mit den großen Händen und dem seltsamen Blick, suchte ständig den Laufsteg nach seinem plötzlichen schwarzen Schatten ab. Wenn er um sieben Uhr früh auftauchte, warum dann nicht auch um drei? Was sollte ihn daran hindern? Es war nichts zu hören, gar nichts – der Wind hatte sich gelegt, und die Nacht war klar und ohne Mondschein. Zum erstenmal, seitdem sie hier war, zum erstenmal in drei langen Sommern fühlte sie sich in ihrem Glashaus nackt und verletzlich, ausgesetzt wie ein Fisch im Aquarium. Die Nacht umfaßte sie und hielt sie in ihrem Griff.
    Dann dachte sie an Mike und an das Haus, in dem sie gewohnt hatten, als er nach dem Studium als Lehrbeauftragter an einer kleinen öffentlichen Uni in den schönen einsamen Bergen von Oregon anfing. Das Haus war eine dieser A-förmigen Satteldachkonstruktionen gewesen, Wohnraum mit Dachkammer darüber, mitten unter den Bäumen, wie ein Haus im Märchen. Es bestand nur aus Fenstern, und aus jedem sah man auf Bäume hinaus, die fast ins Haus wuchsen. Der Vorbesitzer, ein alter Witwer mit wäßrigen Augen und gelblichen Haaren in den Ohren, hatte auf Jalousien oder Vorhänge völlig verzichtet, was Mike gar nicht gefiel – er lag ihr dauernd in den Ohren, sie solle die Fenster abmessen und dann Jalousien oder Vorhangstoff bestellen. Sie hatte aufbegehrt: die Offenheit, das Licht, das Gefühl des Verbundenseins und des Dazugehörens machten für sie ja gerade den Reiz des Hauses aus. Sie liebten sich immer nur im Dunkeln – Mike bestand darauf –, als wäre es etwas, dessen man sich schämen mußte. Und nach einer Weile war es das auch.
    Dann dachte sie an die Zeit davor, an die Zeit vor Todd und dem Studium, als Mike neben ihr im Aufenthaltsraum des Studentinnenheims saß, auf dem Tisch vor dem Sofa aufgeklappte Lehrbücher, um sie herum die Hitze und das Gemurmel von einem Dutzend anderer Paare, die Münder und Körper aneinanderrieben. Man traf sich »zum Lernen«. Stundenlang klammerte sie sich an ihn, das Sofa war wie ein schlingerndes Boot in stürmischer See, quälende Lust, unbeholfene Unschuld, ein endloses Vorspiel, das sie feucht werden ließ und erregte, während der Wind hinter den hohen, zugefrorenen Fenstern heulte. Was für Gefühle. Dann, so gegen Viertel vor eins, kam der Hausmeister und machte das Licht ein paarmal aus und an, zum Zeichen, daß jetzt Schluß war, und sie fielen sich ein letztes Mal in die Arme, jeder Schritt bis zum Ausgang war in Hormone getränkt, dann ein verzweifelter Abschied, bis er irgendwann doch ging und sie den Verlust spürte wie eine Soldatenbraut. Bis zum nächsten Abend.
    Irgendwann – es war gegen zwei, drei Uhr morgens, der Große Bär stand bereits tief am Horizont, der Orion im Zenit – dachte sie wieder an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher