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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen
Autoren: T. C. Boyle
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zurück an die Arbeit...«
    »Ich weiß, ich weiß«, sagte er und hob die massige Hand, »zurück ins Nest, was? Ich weiß, ich geh Ihnen bestimmt mordsmäßig auf die Nerven damit, und sicher bin ich nicht der erste, der das sagt, aber Sie sehen einfach zu gut aus, als daß Sie hier an die Eichhörnchen und Coyoten verschwendet werden sollten.« Er kam die Stufen herunter, kam auf sie zu, und sie dachte in diesem Augenblick daran, an ihm vorbeizuflitzen, ein wilder Gedanke, instinktiv und verzweifelt, ein Gedanke, der sich wie mit Krallen in ihr Gehirn bohrte und dort gefror, ehe sie sich regen konnte. »Meine Güte«, sagte er, und in seiner rauhen Stimme lag unerschütterliche Gewißheit, »wird’s Ihnen hier denn nicht einsam?«
    Und dann sah sie die Bewegung, ein Stück rechts und weiter unten: zwei rosa Jagdmützen, die den Pfad heraufkamen. Es war vorbei. So einfach. Sie konnte jetzt davongehen, die Stiege hinaufsteigen, sich im Ausguck einschließen. Aber warum raste ihr Herz immer noch, warum hatte sie das Gefühl, als hätte es noch nicht einmal angefangen? »Verdammt«, sagte sie und sah ins Tal hinab, »noch mehr Besucher. Jetzt muß ich aber wirklich zurück.«
    Er folgte ihrem Blick und sah ebenfalls zu den Jägern, die abwechselnd verschwanden und wieder zu sehen waren, während sie sich den Weg hinaufarbeiteten. Sie erkannte jetzt ihre Gesichter – zwei ältere Männer, strähniges Haar unter den grellen Mützen. Unbewaffnet. Nur Fotoapparate. Er musterte die beiden einen Moment, dann sah er ihr in die Augen, ganz tief, als hätte er etwas darin verloren. Schließlich zuckte er die Achseln, drehte sich um und ging den Pfad entlang auf die Männer zu.
    Sie war in guter Form, in der besten ihres Lebens. Die Stiege hatte sie schon tausendmal, zweitausendmal hinter sich gebracht, aber nie war sie schneller oben gewesen als jetzt. Sie flog die Stufen hinauf wie vom Wind getrieben, dabei hämmerte ihr das Herz in Panik gegen die Rippen, und sie roch das heraufziehende Unwetter, fühlte die Kälte bis ins Mark. Und dann war sie an der Tür, knallte sie hinter sich zu und tastete nach dem Riegel. Dann, erst dann fielen ihr die Blumen auf. Sie standen in der Mitte des Tisches, in einer Kristallglasvase, Lupinen, Kreuzkraut, Vergißmeinnicht.
    Über Nacht fiel Schnee, übergroße, monströse, taumelnde Flocken, die an den Fenstern klebten und sie mit Verzweiflung erfüllten. Bei Licht hätte sie sich nur schutzlos und ausgeliefert gefühlt, und deshalb saß sie jetzt schon die zweite Nacht im Dunkeln, mit dem Küchenmesser im Schoß, und horchte auf seine Schritte auf der Stiege, während ringsherum der Himmel barst. Aber er würde nicht kommen, nicht nachts, nicht bei diesem Wetter – sie war kindisch und albern, es gab keinerlei Grund zur Sorge. Außer dem Schnee. Er bedeutete, daß ihre Saison vorbei war. Und wenn ihre Saison vorbei war, mußte sie vom Berg hinunter in die wirkliche Welt, in die wirkliche Zeit steigen, zurück zu Smog, Lärm und Wirrwarr.
    Sie dachte an die vier Wände, die sie erwarteten, an den jämmerlichen Job – Kellnern, Kassiererin in einem Schnellimbiß oder irgendeine ähnliche langsame Kreuzigung des Geistes –, und sie dachte an Mike, kurz bevor sie ihn verlassen hatte, sah ihn vor sich auf der schwarzen Fensterscheibe, geschlechtslos, bleich, die schmale schmetterlingsförmige Lesebrille ganz vorn auf die Nase geklemmt, auf seine Schreibmaschine einhackend, tipp-tipp, tipp-tipp, verliebt in Dryden, Swift und Pope, verliebt in tote Dichter, verliebt in den Tod selbst. Einen Monat nachdem sie ihn verlassen hatte, war sie auf einer Party einem Mann begegnet, der Mike in allem geähnelt hatte, nur daß dieser in Gliederfüßler verliebt war. Gliederfüßler. Danach hatte sie den Posten im Ausguck angenommen.
    Wieder wachte sie spät auf. Als erstes verspürte sie Erleichterung: die Sonne schien, und der Schnee – es war nur ein dünner Zuckerguß, nichts Ernstes – begann sich bereits von der nackten Felsenzinne zurückzuziehen. Sie stellte den Kessel auf und ging ans Funkgerät. »Zack«, rief sie, »hier Needle Rock. Bist du auf Empfang?«
    Er war es, antwortete ihr praktisch auf Knopfdruck. »Auf Empfang. Kommen.«
    »Hier oben hat’s geschneit – nicht allzuviel, eigentlich ist es nur leicht angezuckert. Jetzt ist der Himmel klar.«
    »Damit kommst du etwas spät – diese Information hab ich schon längst von Lewis auf Mule Peak gekriegt. Wieder verschlafen?«
    »Ja,
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