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Flegeljahre am Rhein

Flegeljahre am Rhein

Titel: Flegeljahre am Rhein
Autoren: Bernd Ruland
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stören und schreibt von Krischan die Aufgaben ab. Dumme Sache, daß man ausgerechnet in der ersten Bank sitzen muß. Gamaschke hat einmal in der letzten Bank gesessen. Da hat er zuviel Unsinn gemacht. Neben ihm saß Krischan. Nun sitzen sie beide
    unten, gleich vorne vor dem Katheder. Schon drei Wochen nach Ostern hat Kilian sie nach vorne geholt. Kinder wären sie, hat er gesagt. Und nächstens wollen sie zwanzig werden.
    Stimmen schwirren durch das Klassenzimmer. Apollo, der da über dem Katheder in klassischer Schönheit und paradiesischer Nacktheit thront, blickt ganz entsetzt. Da hinten pfeift einer eine Foxtrottmelodie. Willi II., der große Musiker, gibt sein Morgenkonzert. Civilis, der Adonis der Klasse, trommelt mit Bleistift und Federhalter den Takt dazu.
    „He, kennt ihr den neuesten Witz?“ brüllt Bobby. „Silentium! Frau Wirtin hatte einen Sohn... „ Gamaschke gibt seine Mathematik auf.
    Da schellt es zum ersten Male. In fünf Minuten beginnt die erste Stunde.
    „Quatsch, Frau Wirtin! Erzähl’ das nachher! Was wird heute bei Balduin angestellt? Wer hat Vorschläge?“
    „Heute großes Feuerwerk!“
    „Gasangriff!“
    Sauerbrunnen, klein, dick, ein richtiger Wasserverdränger, kommt in die Klasse, klatscht seine Mappe auf die Bank, brüllt sein „Servus, Boys!“, holt ein Fläschchen aus der Tasche:
    „Hier, Leute!“
    Alles springt aus den Bänken, bildet einen Kreis um Sauerbrunnen.
    „Rache für den letzten Dienstag! Balduin hat uns nicht umsonst den Arrest gegeben! Rache, sage ich, Rache!“
    Und die Klasse wiederholt, dumpf und feierlich: „Rache!“
    „Silentium! Wer heute kneift bei Balduin, der bekommt Klassenhiebe! Die Schwarze Hand wacht!“
    Gamaschke hat gesprochen. Er ist der Vertreter der Klasse, der Sprecher. Bisher hat er seine Sache gut gemacht. Was die Klasse erreichen wollte, ist erreicht worden. Gamaschke hat sich mehr als einmal beim Direktor herausschmeißen lassen. Er hat auch die Schwarze Hand gegründet, einen Selbstschutz sozusagen. Wer sich dem Klassengeist nicht beugt, verfällt der Schwarzen Hand und wird vermöbelt. Die Schwarze Hand wacht. Das sind Gamaschke, Sauerbrunnen, Willi II., Krischan, Civilis und Bobby.
    Es schellt zum zweiten Male. Jeder geht auf seinen Platz. Zweiundzwanzig von den dreiundzwanzig sind zur Stelle. Einer fehlt mal wieder. Krank wird er wahrscheinlich nicht sein. Gamaschke oder Krischan werden wieder eine Entschuldigung schreiben müssen. Mit eigenhändiger Unterschrift des Vaters, Erziehers oder dessen Stellvertreters.
    Bitte sehr, in den Vorschriften kennen sie sich sehr genau aus.
    Gamaschke trägt schnell noch die letzten Zeilen seiner Mathematik in das Heft ein. Bruno kommt. Die Klasse springt auf, ruckzuck, die Sitze poltern gegen die Bänke.
    „Bon jour, mes amis!“
    „Bon jour, monsieur!“
    Oh, die Klasse spricht perfekt Französisch!
    Bruno trägt seit vierzehn Tagen einen neuen Anzug. Piekfein, dernier cri. Die Klasse spricht wirklich vollendet Französisch. Bruno trägt immer ein weißes Tuch in der Brusttasche, läßt die sauberste Ecke herauslugen. Seine Mappe ist nicht so abgegriffen wie die Mappe seiner Kollegen. Bruno ist überhaupt ein feiner Kerl, nicht schön, aber schick; eigentlich ohne besonderen Befund, mit seiner Zunge jedenfalls sehr schnell, sehr ausdauernd, unentwegt: die kann eine ganze Stunde erzählen, von Paris, von schönen Frauen, von London, von der Marneschlacht, von den letzten Ergebnissen der Atomforschung, von den ersten Versuchen auf dem Gebiete der Mückendressur, vom Münchener Hofbräuhaus und vom Straßburger Münster.
    Was wichtig, was gefährlich ist, was eigentlich schon längst hätte gesagt werden müssen: Bruno hat auch eine Tochter. Eine sehr hübsche. Wer Glück bei ihr hat... Nun ja, man wird abwarten müssen. Bis heute hat keiner Glück gehabt. Nur Civilis scheint etwas im Kurs zu steigen. Weil er einmal so schön ein Gedicht vorgetragen hat. Was stellt schon ein Primaner in den Augen eines Mädchens dar? Wenn es hübsch und neunzehn ist... Die ganze Oberprima ist in dich verliebt, blonde Hilde. Willi II. hat dir schon einen selbstkomponierten Tango gewidmet. Wenn Civilis es nicht für albern und eines Oberprimaners unwürdig hielte, hätte er dich schon angedichtet oder anzudichten versucht, bezaubernde Hilde!
    „Plötz, übersetzen Sie bitte“ — Bruno ist immer so höflich —, „übersetzen Sie, bitte, die erste Seite von »Le bourgeois gentilhomme«. Das war doch Ihre
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