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Flegeljahre am Rhein

Flegeljahre am Rhein

Titel: Flegeljahre am Rhein
Autoren: Bernd Ruland
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Balduin genau betrachtet, wird überhaupt so manches feststellen können. Zum Beispiel... aber, das gehört jetzt nicht hierher.
    Balduin greift nach dem Glas, setzt es an den Mund, nimmt einen kräftigen Schluck, will es wieder auf den Tisch setzen, läßt das Glas aber wieder schnell kehrtmachen und trinkt den Rest in einem Zuge aus. Dann legt er das linke Bein über das rechte Knie.
    Was sich dann wiederholt, geschah schon oft im Laufe des Abends: Der Wirt bringt ein neues Glas. Balduin döst vor sich hin, kaut an seiner Zigarre und rollt so gutmütig mit den Augen, daß niemand auf den Gedanken kommen kann, daß Balduin heute schlechtester Laune ist.
    Was fehlt ihm nur?
    Der Wirt weiß es auch nicht. Bis jetzt weiß es noch niemand.

    ☆

    In derselben Stunde findet in der Peterstraße 7a zu Rheinstadt eine bedeutungsvolle Aussprache zwischen Mutter und Tochter statt. Im kleinen Wohnzimmer der Peterstraße 7a ist nur eine Stehlampe angezündet, die einen dämmrigen Schein verbreitet und gerade hell genug ist, daß Frau
    Emma die Stickerei übersehen kann, mit der sie beschäftigt ist, und Fräulein Tochter Klothilde die lyrischen Gedichte in einem abgegriffenen Bändchen lesen kann.
    Die Mutter stickt und schweigt. Die Tochter liest und schweigt. Eine Kuckucksuhr tickt emsig. Sonst Stille im Raum. In regelmäßigen Abständen von einigen Minuten wendet Klothilde eine Seite ihres Gedichtbändchens. Ganz zarte Lyrik, was sie da liest, bitte. Vielleicht etwas zu zart für ein Mädchen, das vierundzwanzigmal den Frühling sah und im Herbst geboren wurde.
    Uber Backfischjahre ist Klothilde erhaben gewesen. Überlegen schritt sie durch diese Jahre. „Schritt“ ist zuviel gesagt. Ein Mädchen, klein an Gestalt, mit dicklichen Beinen, rundlich im ganzen sowieso, kann schlecht schreiten. Schön, also sie stapfte durch diese Jahre.
    Klothilde hat ihr „Einjähriges“ gemacht. Sie war auf der Frauenschule, hat kochen und nähen gelernt. Klothilde kann auch Klavier spielen. Bitte, das „Gebet einer Jungfrau“ konnte sie schon mit 17 Jahren auswendig und mit verbundenen Augen vortragen.
    Fräulein Tochter hat auch einen Kursus in Säuglingspflege mitgemacht. Sie kann sogar ein Frackhemd ordnungsgemäß bügeln und stärken. Klothilde kann viel, Klothilde kann alles, Klothilde kann jetzt ans Heiraten denken. Aber sie denkt mehr an Lyrik.
    Um so mehr denkt Frau Emma an die Heirat ihrer Tochter. Sie hat schon geheime Fäden gesponnen. In der Stadt munkelt man davon. Beim letzten Kaffeekränzchen hat Frau Emma verheißungsvolle Andeutungen gemacht.
    Aber Emma hat schwer zu kämpfen. Balduin will nichts davon wissen. Das Kind soll nicht heiraten. Sein Kind darf nicht heiraten. Ach, und das Kind ist ja so schüchtern und zu etwas Höherem und Größerem geboren. So hat Balduin zu seiner Frau gesagt.
    Frau Emma seufzt. Sie legt ihre Stickerei auf den Tisch. Sie kontrolliert, ob ihr Haarknoten noch gut sitzt. Er tut es. Frau Emmas Seidenbluse knistert. Ihre Brust ist feierlich dekoriert mit zierlichen Spitzen, und ein Stehbörtchen schmiegt sich eng um ihren Hals. Sie spielt mit ihrer Lorgnette, die sie nie für ihre Augen braucht und nur deshalb trägt, weil es ein altes Erbstück ist. Erbstücke soll man heilig halten. So hat sie von ihrer Mutter gelernt, und so hat sie es auch ihre Tochter Klothilde gelehrt.
    „Kind, höre einmal...“
    »Ja, Mama...?“
    „Du weißt, daß du nun... ich meine... du bist nun einmal... wie soll ich nur...?“
    „Ja, Mama?“
    Klothilde sieht durch ihre dicken Brillengläser die Mutter ganz erwartungsvoll an. Frau Emma ringt nach Worten. Wie soll sie es nur sagen? Ganz behutsam muß es dem Kinde beigebracht werden. „Du weißt, mein Kind... „
    Da fährt ganz frech der Kuckuck aus seinem Uhrenhäuschen, wirft das Türchen zurück und ruft ganz vorlaut in die bedeutungsvolle Stimmung, in diese Feierlichkeit zwischen Mutter und Tochter, daß es halb elf sei.
    Frau Emma sieht entsetzt auf die Uhr.
    „Wo Vater nur wieder bleibt! Er sollte doch heute abend früh zu Hause sein, er sollte überhaupt nicht mehr nach Rebenheim; er kann es doch nicht vertragen...“
    „Ja, Mama!“
    „Ich werde ihm einmal tüchtig den Kopf waschen. Gott, nein, diese...“
    Frau Emma seufzt wieder.
    „Du weißt, mein Kind, daß du nun in dem Alter bist, in dem man an die Zukunft denken muß“ — Klothildens Gesicht wird verklärt — „an eine Zukunft, die du gemeinsam...“
    „Ja, Mama, ich verstehe dich...
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