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Flegeljahre am Rhein

Flegeljahre am Rhein

Titel: Flegeljahre am Rhein
Autoren: Bernd Ruland
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haben. Ich sehe sie alle vor mir, als ob sie wirklich und wahrhaftig da stünden: den Erich, den Fritz, den Hellmut, den da und diesen da... Dahin ist die Schulzeit — diese oft verfluchte Zeit, in der wir keine Sorgen hatten, in der alles so wundervoll leicht und schön war. Jedes Jahr, wenn wir uns nach Weihnachten zu einem Klassentag versammeln, ersteht sie noch einmal für einige Stunden.
    Ich kann mir nicht helfen: Meine Geschichte ist eine Liebeserklärung an meine alte Penne. Aber ich bin davon überzeugt, daß sie ganz anders reagieren und böse auf mich sein wird.

    Am Rhein, im Vorfrühling 1935

    Bernd Ruland

Da scheint jemand auf die Nase gefallen zu sein

    Der Schnellzug nach Süddeutschland hat es eilig. Er schert sich nicht um Rebenheim. Was geht ihn dieses Nest schon an? Da steigt doch keiner ein. Er pfeift und stampft weiter.
    In Rebenheim gibt es keine feinen Hotels. Da gibt es keine großen Geschäfte. Dort findest du nur ein paar kleine Läden. Einer davon, an der Dorfstraße, verkauft Schnürsenkel und Rollmöpse, Bleistifte und Nudeln, Patentknöpfe und altes, schon eingetrocknetes Bohnerwachs. In ganz Rebenheim gibt es nämlich nur etwas zu bohnern: Das ist der Tanzboden von Tante Stöffelchen, der einmal im Jahr große Tage erlebt.
    In diesem gemütlich-verträumten Dorf kennt man auch nichts von Nagellack und Sommersprossenwasser. Wenn es hoch kommt, fragt der Friseur, der einmal vor 20 oder 30 Jahren in Koblenz das Rasieren gelernt hat: „Mit Kölnisch nachwaschen?“ Die meisten sagen nein, weil sie glauben, daß es „beißt“.
    Übrigens, Rebenheim liegt nicht weit von Rheinstadt. Dort halten die Eilzüge. Es sage aber keiner etwas gegen Rebenheim. Dort gibt es nämlich einen ganz ausgezeichneten Wein. Seht euch einmal die Berge an, die das entzückende Nest zärtlich umarmen. Fahrt einmal im Herbst hin und seht euch die prallen Trauben an. Da werdet ihr plötzlich Durst bekommen. Bitte, es gibt fünf Wirtschaften dort, in denen man nach Herzenslust den guten Wein kosten kann.
    Wenn ihr an jenem Abend, da der D-Zug nach Süddeutschland besonders verspätet und deshalb um so ungestümer durch den Bahnhof Rebenheim raste, im „Tapferen Schneiderlein“ gesessen hättet, wäre euch sicherlich ein Herr mit... wie soll man sagen, eine Glatze ist es noch nicht ganz, ein paar graue, borstige Härchen sind immer noch da, und eine Haarbürste soll auf dem Waschtische dieses Herrn liegen... kurz und gut, ein Herr wäre euch aufgefallen, der mit sichtlichem Behagen Glas um Glas goldgelben Weines schlürft.
    Ihr könnt euch unbesorgt zu ihm setzen. Er wird euch nicht belästigen. Er wird euch gar manches zu erzählen wissen. Dann und wann wird er sich vergewissern, ob seine Härchen noch alle an den ihnen zugewiesenen Plätzen sitzen. Wenn er später, nach dem soundsovielten Glase, heftiger zu werden beginnt, dann laßt ihn ruhig aussprechen. Stört ihn nicht in seinen geistigen Höhenflügen. Zeigt nicht durch dumme Fragen, daß ihr nicht wißt, was wahre Wissenschaft ist.
    Aber an jenem Abend, von dem hier die Rede ist, war ja keiner von euch dabei. Es ist vielleicht gut so. Man weiß ja nie, was sich ereignen kann. Und heute kommt irgend etwas... Heute muß etwas geschehen. Das liegt in der schlechten, verqualmten Luft des kleinen Weinzimmers vom „Tapferen Schneiderlein“ zu Rebenheim am Rhein.
    In diesem kleinen Zimmer sitzt der Herr ganz allein. Der dicke Qualm stammt nur von diesem Herrn. Das heißt, von seinen Zigarren.
    „Bekommt der Herr Studienrat noch ein Viertelchen, bitte?“
    Wie diese Leute einen durch lächerliche Fragen in den Gedankengängen stören können! Natürlich bekommt er noch ein Glas. Balduin schiebt dem Wirt das leere Glas entgegen, sagt nichts, zieht an seiner Zigarre, krabbelt mit der linken Hand auf dem Kopf; jawohl, sie sind alle noch da!
    Balduin, der Erdkundelehrer der Oberprima am Gymnasium zu Rheinstadt, legt das rechte Bein über das linke Knie. Seine hohen Schuhe sind unordentlich geschnürt, und seine Hosenbeine sind so eng, daß für eine Bügelfalte kein Platz mehr bleibt. Das macht nichts; um so mehr Falten wirft die weite Weste, an der sich von der linken Tasche zur rechten kühn eine schwere Uhrkette schwingt. Ob sie aus echtem Gold ist, weiß ich nicht.
    Aber die Krawatte ist nicht echt; so schön, so gerade kann sie Balduin nicht binden. Wer genau hinsieht, hat bald die Klammern entdeckt, mit denen die Krawatte am Kragen befestigt ist. Wer
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