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Flegeljahre am Rhein

Flegeljahre am Rhein

Titel: Flegeljahre am Rhein
Autoren: Bernd Ruland
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auf ihm niederlegte. Die in den vorderen Bänken sehen es zuerst, die anderen bemerken es jetzt auch... Armer, guter Balduin! Sein Gesicht klebt voller Pflaster, ein breiter Streifen Leukoplast zieht sich quer über die Stirn, ein kleiner hat sich auf die Nase gesetzt, und auf der linken Backe überkreuzen sich sogar zwei Streifen, und die unter ihnen hervorlugende Watte oder Mullbinde, oder was es ist, läßt vermuten, daß böse Schrammen die Backe des guten Balduin zieren.
    Balduin sieht trostlos und in Weltuntergangsstimmung in die Klasse. Da verstummt der Lärm etwas. Die letzte Knallerbse fliegt gegen die Wand. Mit einem letzten kreischenden, kratzenden Geräusch kullert die Konservendose, die jeden Dienstag in der zweiten Stunde seit drei Wochen in Aktion treten muß, zur letzten Bank hin, wo Civilis dafür sorgt, daß sie gut verwahrt wird, bis, ja... bis... lieber Gott, diese Luft kann ja kein Mensch ertragen. Gamaschke fängt zu husten an. Einige andere geben würgende Laute von sich. Nun macht doch das Fenster auf!
    „Setzen Sie sich!“
    Balduin sagt es ganz mechanisch, heiser, leise. Er hat nicht bemerkt, daß die Klasse längst schon sitzt. Sauerbrunnen grinst.
    „Ziehen Sie die Vorhänge zurück!“
    Auch das sagt Balduin leise, resigniert. Es hat ja doch keinen Zweck, diese Bande anzubrüllen. Sie ist stärker als er. Er ist es so gewohnt, daß man seine Güte, daß man sein Unvermögen, Disziplin zu halten, daß man seine Anständigkeit, die weiter nichts als Schwäche bedeutet, mißbraucht. Schüler sind grausam.
    „Ziehen Sie die Vorhänge zurück!“
    Die Klasse bleibt ohne Entschluß. Gamaschke, der in Fällen Sollen-wir-oder-sollen-wir-nicht meist die Entscheidung trifft, weiß auch nicht recht, was er unternehmen soll.
    Eigentlich tut ihnen Balduin in diesem Augenblick sehr leid. Aber unkonsequent werden...? Hat die Klasse nicht heute morgen von Rache gesprochen? Eine Stunde Arrest verdankt sie Balduin... Keiner steht auf, die Vorhänge zurückzuziehen. Balduin steigt vom Katheder, stellt sich vor die Klasse, holt tief Atem, sucht nach Worten, ringt nach Luft, fühlt nach seinen Rest-Härchen, fühlt an seine Pflaster im Gesicht, sieht in die feindseligen Gesichter der Oberprimaner, starrt in das mystische Licht der Klasse...
    Und dann kommt es über ihn, irgendein Gefühl gibt ihm einen inneren Stoß und macht ihn mutig: „Ich werde Sie züchtigen lassen, ich werde Sie bestrafen, ich werde dafür sorgen, daß keiner von Ihnen das Abitur besteht... Ich werde... Ich werde... jawohl, der große Tag meiner Rache kommt!“
    In diesem Augenblick klopft jemand energisch an die Tür des Klassenzimmers, und in derselben Sekunde geht die Tür auf.
    „Sitzen bleiben, sitzen bleiben! Was ist denn das hier...?!“
    Gamaschke springt auf, Krischan springt auf, in den letzten Bänken springt einer auf... Alle drei laufen an die Vorhänge, ziehen sie zurück, reißen die Fenster auf. Das geht so schnell, daß keiner begreift, was geschehen ist.
    Da steht Tithemi wie der hochdonnernde Zeus persönlich. Er will etwas sagen, er zieht aber schnell sein Taschentuch, vergißt seine ganze Direktorwürde und niest kräftig — hazi, und noch einmal hazi! Steckt das Taschentuch fort und schreit. Und schreit. Und schreit.
    „Was ist hier los? öffnen Sie die Fenster! öffnen Sie die Tür! Schweigen Sie, Jansen, schweigen Sie! Keine Entschuldigung! Ich werde Sie alle einsperren lassen... „
    Balduin hat sich ganz sachte an die Tafel geschlichen und weiß nicht, was geschehen ist. Aber Tithemi weiß es:
    „Wer hat das gemacht? Wo kommt diese Stinkerei her?“
    Gamaschke als Sprecher der Klasse will etwas sagen.
    „Sie sind nicht gefragt!“
    Tithemi nimmt sein Taschentuch. Balduin hat es schon lange genommen. Die ganze Klasse müßte es ebenfalls nehmen. Aber keiner wagt es.
    Tithemi wird etwas ruhiger.
    Balduin, der inzwischen fast ganz hinter der Tafel verschwunden war, wagt sich wieder vor.
    „Das Weitere wird sich finden! Sie haben mir heute keine Ehre gemacht! Ich bin sprachlos... Herr Kollege“ — und dabei wendet sich Tithemi an Balduin, der stumm und verdattert auf die Klasse und Tithemi blickt — „Herr Kollege, ich muß Sie dringend sprechen... Fatale Sache, tut mir sehr leid... Bitte sehr, Herr Kollege, kommen Sie... Gamaschke, Sie sind mir dafür verantwortlich, daß jetzt Ruhe herrscht. Übersetzen Sie alle zwanzig, nein dreißig Verse weiter in ihrem Homer!“
    Tithemi ist schon an der
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