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Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag

Titel: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag
Autoren: Alan Bradley
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»Ich hatte die Nase voll vom Abwaschen und Abtrocknen, vom Fegen und Staubwischen, davon zuzuhören, wie sich die Nachbarn nebenan übergeben. Ich mochte nicht mehr nachts wach liegen und auf das Hufgeklapper des Schimmels warten, der mir den Prinzen bringen sollte.«
    Ich grinste.
    »Rupert gab meinem Leben eine Wendung. ›Komm mit mir zum Tor von Diarbekir‹, hat er zu mir gesagt. ›Komm mit mir in den Orient, und ich mache eine Prinzessin aus dir, eine Prinzessin
in seidenen Gewändern und mit Diamanten groß wie die Kohlköpfe auf dem Markt.‹«
    »Echt?«
    »Nein. Eigentlich hat er bloß gesagt: ›Mir ist meine dämliche Gehilfin weggelaufen. Komm am Wochenende mit nach Lyme Regis, ich biete dir ein Taschengeld, sechs Mahlzeiten und einen Schlafsack. Und ich lehre dich die Kunst der Manipulation‹, hat er noch gesagt, und ich dumme Kuh glaubte, dass er von Marionetten spricht.«
    Ehe ich nachhaken konnte, war sie aufgesprungen und klopfte sich den Rock ab.
    »Wo wir gerade von Rupert sprechen«, sagte sie, »lass uns lieber reingehen und nachschauen, was er und der Vikar da drin treiben. Es ist verdächtig ruhig im Gemeindesaal. Was meinst du - ob sie sich schon gegenseitig umgebracht haben?«
    Ihr Blumenkleid wogte anmutig zwischen den Grabsteinen hindurch, und mir blieb nichts anderes übrig, als wie ein Hündchen hinter ihr her zu trotten.
     
    Der Vikar stand mitten im Saal, Rupert hatte sich mit in die Hüfte gestemmten Armen auf der Bühne aufgebaut. Hätte er sich gerade nach der Vorstellung im Old Vic von seinem Publikum verabschiedet, die Beleuchtung hätte nicht dramatischer sein können. Wie vom Schicksal persönlich gesandt, fiel ein unerwarteter Sonnenstrahl durch ein Buntglasfenster in der Rückwand des Saales, und wie ein Scheinwerfer übergoss er Ruperts emporgewandtes Gesicht mit goldenem Glanz. Rupert nahm eine theatralische Pose ein, und schon sprudelte Shakespeare aus ihm heraus:
    Wenn meine Liebe schwört, sie sei mir treu,
So glaub’ ich ihr, obgleich ich weiß, sie lügt,
Damit sie meint, ich wäre blöd und scheu,
Ein Knabe noch, den leicht die Welt betrügt.

In Hoffnung so, dass sie für jung mich hält,
Obgleich sie weiß, mein Lenz ist abgepflückt,
Hab’ ich mich gläubig ihrem Wort gestellt,
Und beiderseits wird Wahrheit unterdrückt.
    Wie der Vicar versprochen hatte, war die Akustik erstaunlich gut. Wer auch immer den Saal im 19. Jahrhundert erbaut hatte, er hatte den Innenraum als leicht gewölbte Muschel aus schimmerndem Holz gestaltet, die das kleinste Geräusch verstärkte wie der Klangkörper eines Musikinstruments - gerade so, als säße man im Inneren einer Stradivari. Ruperts wohlklingende, honigsüße Stimme erfüllte den ganzen Raum, hüllte uns in ihren volltönenden Hall:
    Doch warum schweig’ ich, dass ich alt und grau,
Warum sie ihre Falschheit mir verhehlt?
Oh, Liebe trägt die Treue gern zur Schau
Und liebt nicht, dass man ihre Jahre zählt.
Drum hört sie meines, ich ihr falsches Wort,
Und Lügen schmeicheln unsre Fehler fort.
    »Können Sie mich jetzt hören, Herr Vikar?«
    Der Zauber war sofort gebrochen. Es war, als hätte Laurence Olivier mitten in »Sein oder nicht sein« plötzlich »Wuff! Wuff! Test … eins … zwei … eins … zwei« geblökt.
    Was mich persönlich an Ruperts Darbietung am meisten überraschte, war, dass ich sofort verstand, was er da vortrug. Weil er am Ende jeder Zeile eine fast unmerkliche Pause machte und die Bedeutungsnuancen mit seinen langen weißen Fingern illustrierte, begriff ich den Sinn der Worte. Den Sinn jedes einzelnen Wortes.
    Als drangen die Worte mittels Osmose durch meine Poren in mich ein, begriff ich beim Zuhören unmittelbar, dass hier ein verbitterter alter Mann seine weit jüngere Geliebte anklagte.

    Mein Blick wanderte zu Nialla. Sie griff sich an die Kehle. In der folgenden, nachhallenden Stille rührte sich der Vikar nicht vom Fleck; es sah aus, als wäre er aus schwarzweißem Marmor gehauen.
    Ich war Augenzeugin eines Schauspiels geworden, das nicht jeder der Anwesenden in seiner vollen Tragweite begriff.
    »Bravo! Bravo!«
    Die gewölbten Hände des Vikars fanden in einer raschen Folge klatschender Donnerschläge zusammen.
    »Bravo! Sonnett einhundertachtunddreißig, wenn ich nicht völlig danebenliege. Und, wenn ich meine bescheidene Meinung kundtun darf, vielleicht noch nie ergreifender dargeboten.«
    Rupert platzte schier vor Stolz.
    Draußen verschwand die Sonne hinter einer Wolke.
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