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Flammenzungen

Flammenzungen

Titel: Flammenzungen
Autoren: Administrator
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sogar während ihrer gemeinnützigen Arbeit Lippenstift, wenn auch in ei nem dezenten Pfirsichton.
    Wanda neigte sich zu ihr und feixte leise: „Du starrst ihn schon wieder an.“
    „Wen?“, fragte Amy mit unschuldiger Miene.
    Ihre Freundin zwinkerte. „Lorcan natürlich.“
    Da er in diesem Moment von seinem Platz am hintersten Esstisch aufschaute, und zwar geradewegs zu ihr, senkte sie verlegen den Blick. „Unsinn! Ich war nur in Gedanken.“ „Er zählt noch nicht zu den hoffnungslosen Fällen“, ließ Wanda beiläufig fallen und wischte mit einem Lappen die Soßenspritzer zwischen den Warmhalteplatten weg. „Sein Atem stinkt noch nicht, und seine Pupillen sind klar.“
    Wie lange würde er es schaffen, sich gegen die Versu chung zu wehren, die Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit zu ertränken oder wegzukoksen? Amy bediente den nächs ten Gast und vermied es tunlichst, Lorcan noch mehr Auf merksamkeit zu schenken. Er sollte nicht merken, dass sie ihn attraktiv fand. Wie immer saß er abseits von den anderen. Schweigend aß er und verstrickte sich weder in Gespräche,   noch geriet er in Kämpfe. Er nutzte regelmäßig das Ange bot, in der Gemeindeeinrichtung zu duschen und seine Klei dung zu waschen, aber er blieb niemals über Nacht. Viele der Clochards schliefen auf der Straße, weil die Nächte im Sommer angenehm warm blieben und sie es nicht mehr ge wohnt waren, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Wo mochte er sich hinlegen? Auf eine Parkbank, in einen Hauseingang oder in eine U-Bahn-Station? Bei der Vorstel lung krampfte sich ihr Magen zusammen.
    „Ich würde mich trotzdem von ihm fernhalten.“ Wanda musterte ihn kritisch. „Niemand sitzt unschuldig im Kitt chen, egal wie sehr er das beteuert.“
    Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie in die Küche. Just in diesem Moment erhob sich Lorcan und kam auf Amy zu. Stumm hielt er ihr seinen Teller hin. Seine Finger nägel waren kurz geschnitten und sauber. Auch das bewies ihr, dass er kein gewöhnlicher Stromer war. Noch hatte er sich nicht aufgegeben. Aber mit jedem Tag auf der Straße schwand seine Chance darauf, wieder in ein normales Le ben zurückzufinden. Er brauchte dringend Hilfe, lehnte es aber ab, mit dem Sozialarbeiter der Wohnungslosenhilfe zu sprechen.
    „Du weißt doch, dass es keinen Nachschlag gibt, damit Nachzügler nicht leer ausgehen.“ Wanda hatte ihr geraten, streng mit den Stadtstreichern zu sprechen, um sich von An fang an Respekt zu verschaffen, aber bei Lorcan gelang ihr das nicht. „Erst wenn die offizielle Öffnungszeit vorbei ist, verteilen wir den Rest an alle.“
    „Bitte“, sagte er sanft, und in Amys Ohren klang das so verführerisch, als würde er mit ihr flirten. Tat er das nicht so gar, wenn auch nicht mit Worten? Das Timbre seiner Stimme ging ihr durch und durch. Diese hellblauen Augen, aus de nen er sie neugierig musterte, erinnerten sie an die Eisblu men auf den Fenstern ihrer Tante Bridget, die sie vor zwei Jahren im Dezember in Minnesota besucht hatte. Glückli cherweise fiel die Temperatur in Louisiana selbst im Winter selten unter zehn Grad plus. Eigentlich hätte Lorcans ste chender Blick sie beunruhigen müssen, aber eben weil es in New Orleans keinen Frost gab, übte seine Augenfarbe eine besondere Faszination auf sie aus.
    Sie biss sich auf die Unterlippe und schaute über ihre Schulter in die Küche, aber weder Wanda noch Finley, der Koch, waren zu sehen. Auch Seth, der Security Guard, der die Nachtschicht im Asyl hatte, zeigte sich nicht. Schnell füllte sie Lorcans Teller ein zweites Mal.
    Sein warmes Lächeln ließ ihren Puls hochschnellen. Mochte er auch durch seine Introvertiertheit und seinen Körperbau gefährlich wirken, so flößte er ihr eine Furcht ein, die sie unpassenderweise erregte. An diesem Tag trug er ein beige-blau kariertes Hemd, dessen Ärmel er heraus- gerissen hatte, sodass seine gebräunten Oberarme zu sehen waren. Die obersten Knöpfe standen auf, seine Brust war trainiert und haarlos. Trotz seiner Muskeln machte er einen geschmeidigen Eindruck.
    Schließlich nickte er ihr zum Dank zu, sah sie noch ei nige Sekunden lang an, als könnte oder wollte er sich nicht von ihr losreißen, und kehrte leichtfüßig zu seinem Platz zurück.
    Innerlich erschrak Amy, als Wanda plötzlich mit einem Radio neben ihr stand. Sie hatte ihre Kollegin nicht kom men hören, ließ sich aber nichts anmerken. Der Moderator ratterte die Wettervorhersage so schnell herunter wie ein
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