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Flammenzungen

Flammenzungen

Titel: Flammenzungen
Autoren: Administrator
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die Gewalt schlug Amy die Hand vor den Mund. Aber in ihrem Inneren strahlte sie, weil Lorcan sie verteidigte.
    „Hast du nicht gehört, was die Lady gesagt hat?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, bugsierte er den Störenfried zur Tür. „Sie hat dich mehrfach höflich gebeten. Du hät test auf sie hören sollen. Jetzt hab ich dich am Arsch. Und wehe, du kommst zurück! Solltest du doch so lebensmüde sein, wirst du beim zweiten Mal auf allen vieren hier raus kriechen, das verspreche ich dir.“
    Das waren mehr Worte, als er in den ganzen zwei Wochen, in denen er jeden Abend zum Essen, Duschen und Wä schewaschen kam, gesprochen hatte. Er stieß den zeternden Mann durch den Vorderausgang auf den Vorplatz der ehe maligen Schule und gab ihn frei.
    Zornig fuhr der Störenfried herum, die Faust erhoben. Doch Lorcan war schneller und boxte ihm in den Magen. Der Raufbold klappte stöhnend zusammen. Er schwankte, hielt sich aber auf den Beinen. Lorcan trat ihm gegen die Schulter, sodass der bullige Indianer rückwärts taumelte und im Freien verschwand.
    Felsenfest rechnete Amy damit, dass er wieder in dem diffusen Blaulicht der UV-Lampe, die über dem Eingang hing, um Moskitos zu rösten, auftauchen würde, doch er schien sich geschlagen zu geben.
    Als Lorcan in das Gebäude zurückkam, schnaubte ein Mann, der in Amys Augen älter aussah als dieses Bauwerk: „Der Shoshone war ja auch besoffen. Keine Kunst, den rauszuwerfen.“
    „Warum hast du dich dann nich’ um ihn gekümmert, wenn es ’n Kinderspiel war?“, fragte sein Sitznachbar, der trotz der Hitze eine Wollmütze trug, und klatschte Beifall. „Und woher willste wissen, dass das ’n Shoshone war?“
    „Für mich sind das alles Shoshonen.“ Der Alte zog die Nase hoch, griff seine Schachtel Zigaretten und verließ das Haus durch den Hinterausgang, der auf den ehemaligen Schulhof hinausführte und heute als Parkplatz diente.
    Amy ging auf Lorcan zu. Ihr Herz pochte jedes Mal aufgeregt, wenn sie sich ihm näherte. Das gefiel ihr gar nicht, denn es machte sie unsicher. Schließlich war sie doch keine sechzehn mehr. Außerdem wusste sie rein gar nichts von ihm, außer dass er auf der Straße lebte und im Gefängnis gesessen hatte. Mochte er sie auch soeben beschützt haben, so bewies das keineswegs, dass er harmlos war. Er hätte wegen Vergewaltigung oder gar Mordes verurteilt worden sein können. Möglicherweise auch nur wegen Steuerhinterziehung.
    Was auch immer er verbrochen hatte, er war nicht der richtige Umgang für eine junge Frau aus einer Kleinstadt wie Waggaman.
    Aber hatte nicht jeder Mensch eine zweite Chance verdient?
    „Danke, das war sehr mutig.“ Sie konnte ihm kaum in seine wunderschönen Augen blicken, so nervös machte er sie.
    Milde lächelte er. „Oder lebensmüde.“
    Am liebsten hätte sie ihm die Haare aus dem Gesicht gestrichen, um es genauer betrachten zu können. „Nein, nein, wirklich nicht.“
    „Ich habe dich erschreckt, das habe ich dir angesehen.“ Er gab einen missbilligenden Laut von sich. „Es tut mir leid.“
    „Der Indianer hat mir einen viel größeren Schrecken eingejagt“, beeilte sie sich zu antworten, aber er hatte recht.
    Bisher hatte er sich immer zurückgehalten, er sprach stets leise und wenig und stellte seinen Teller und seinen Trinkbecher fast lautlos in die Spülwanne, nachdem er abseits der anderen gegessen hatte. Dass er den aufmüpfigen Obdachlosen so grob angepackt hatte, offenbarte ihr eine neue Seite an ihm, eine, von der sie gehofft hatte, dass er sie gar nicht besaß.
    Sein muskulöser Körper, den sie bisher als anziehend empfunden hatte, strahlte mit einem Mal Brutalität aus. Von einer Sekunde auf die andere war er gewalttätig geworden. Er konnte ihr gefährlich werden, in mehr als einer Beziehung. Trotzdem kribbelte es in ihrem Magen.
    Sein Blick streichelte ihren Körper, und sie wünschte sich, nicht diesen hässlichen Kittel zu tragen, der an ihr hing wie ein Sack. Sie strich darüber, als würden ein paar Falten weniger einen Unterschied machen. „Du bist der Einzige, der mir geholfen hat.“
    „Ja.“ Dieses kurze, einfache Wort hörte sich für Amy so sinnlich an, als hätte er ein erotisches Gedicht mit zwanzig Versen vorgetragen.
    Er trat dicht an sie heran. Würde er sie berühren? Würde er einen Kuss aus Dankbarkeit einfordern? Sie wünschte es sich so sehr. Gleichzeitig wusste sie, dass sie dieses Verhalten nicht durchgehen lassen durfte, nicht vor den anderen Gästen des
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