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Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Autoren: Anne Perry
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gegenüberliegenden Straßenseite hinter der einzigen Laterne in Stellung. Narraway hielt sich im Schatten der Gebäude auf der anderen Seite, eilte mit raschen Schritten über den schmalen Gehweg und sprach mit den Polizeibeamten, die Deckung suchten, so gut es ging. Außer Narraways Schritten hörte man keinen Laut. Droschken samt Pferden waren aus dem Gefahrenbereich entfernt worden. Alle Menschen, die dort lebten, hatten sich ins Innere der Häuser zurückgezogen.
    Die Minuten schleppten sich dahin. Nichts regte sich. Pitt überlegte, ob sich überhaupt Anarchisten in dem Gebäude befanden. Automatisch wanderte sein Blick zu den Dächern empor. Sie waren zu steil, als dass sich jemand darauf hätte halten können, und es gab auch keinerlei Mansarden-oder Dachfenster, aus denen man hätte klettern können.
    Narraway kehrte zurück. Er folgte Pitts Blick, und einen Augenblick lang trat ein spöttisches Lächeln auf seine Züge. »Nein, danke«, sagte er trocken. »Falls ich jemanden nach da oben schicken wollte, wären das garantiert nicht Sie. Sie würden bestimmt über Ihre eigenen Rockschöße stolpern. Und bevor Sie mich fragen, ja, ich habe Männer hinter das Haus und an die beiden Seiten geschickt.« Er stellte sich zwischen Pitt und die Mauer.
    Pitt lächelte.
    Grimmig und mit säuerlicher Miene fuhr Narraway fort: »Ich denke nicht daran, den ganzen Tag zu warten, bis die da herauskommen. Ich habe Stamper gesagt, er soll ein paar alte Fuhrwerke als Kugelfang herbeischaffen. Die sind dafür solide genug. Wir legen sie auf die Seite und gehen dahinter in Deckung. Dann wird das Haus gestürmt.«
    Pitt nickte. Er hätte seinen Vorgesetzten gern besser gekannt. Noch traute er ihm nicht so sehr wie früher Micah Drummond oder John Cornwallis, als er Angehöriger der Londoner Stadtpolizei war und auf der Wache in der Bow Street Dienst getan hatte. Er hatte beide Männer geachtet. Er hatte gewusst, dass sie
ihre Pflicht erfüllten, und er hatte außer ihren Fähigkeiten auch ihre menschliche Seite gekannt sowie ihre schwachen Stellen.
    Aus freien Stücken wäre Pitt nie in den Staatsschutz eingetreten. Durch den Erfolg, den er im Kampf gegen die als Innerer Kreis bekannte mächtige Geheimgesellschaft errungen hatte, war er höheren Orts in Ungnade gefallen, und das hatte ihn seine Stellung als Oberinspektor der Londoner Stadtpolizei gekostet. Nicht nur um seiner Sicherheit willen, sondern auch, damit er weiter seinen Lebensunterhalt verdienen konnte, hatte man ihm eine Stellung in der Staatsschutzabteilung verschafft, wo er für Victor Narraway arbeitete. An seine Stelle in der Bow Street war Harold Wetron getreten, Mitglied des Inneren Kreises und inzwischen auch Leiter dessen, was von dieser Gruppierung geblieben war.
    Beim Staatsschutz fühlte er sich unsicher, weil er sich immer wieder wie ein Anfänger vorkam. Für diese Arbeit, bei der nicht nur Geheimhaltung, sondern auch Verschlagenheit nötig war und fast stets politische Hintergründe berücksichtigt werden mussten, hatte er noch viel zu lernen, und um Narraway richtig einzuschätzen, fehlten ihm bislang die Maßstäbe.
    Doch zugleich war ihm bewusst, dass er den Kontakt zur Wirklichkeit ziemlich rasch verloren hätte, wenn er in der Bow Street geblieben und weiter befördert worden wäre. Sein Empfinden für die menschlichen Hintergründe von Verbrechen wäre allmählich in dem Maße geschwunden, wie er alle Informationen aus zweiter Hand bekommen hätte. Außerdem hätte er nicht mehr wie früher unmittelbaren Einfluss auf die Vorgehensweise bei der Aufklärung von Verbrechen nehmen können.
    Mithin befand er sich mittlerweile in einer besseren Ausgangssituation, auch wenn er jetzt mit Narraway in der Morgenkühle in einer abgelegenen Nebenstraße stand und darauf wartete, dass sie einen Anarchistenstützpunkt stürmten. Eine Festnahme war nie einfach oder angenehm. Hinter jedem Verbrechen stand die Tragödie eines oder mehrerer Menschen.
    Pitt stieg der abgestandene Geruch von faulendem Holz und
Abwässern in die Nase. Außerdem merkte er, dass er Hunger hatte. Vor allem aber sehnte er sich nach einer Tasse heißem Tee. Sein Mund war ausgedörrt, und er hatte es satt, bewegungslos an ein und derselben Stelle ausharren zu müssen. Im Schatten war es empfindlich kalt, obwohl Frühsommer war. Das Pflaster des Gehwegs war noch nass vom nächtlichen Tau.
    Vom anderen Ende der Straße rumpelte ein alter Karren herbei, den ein zottiges Pferd zog. Vor der
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