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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee
Autoren: Wendy Wunder
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zuknotet.
    »Campbell, du kannst jetzt nicht da raus.«
    »Doch, kann ich«, erwiderte Cam, aber als sie nach dem Geländer der Wendeltreppe griff, wurde ihr schwindelig, und sie fiel fast hin.
    Ihre Mom stützte sie am Ellbogen. »Warte hier auf ihn, Cam. Das ist alles, was du tun kannst, Liebes.«
    Cam riss die Glastür der Kuppel auf und trat hinaus auf den eigentlichen Witwengang. Der peitschende Regen durchnässte sie im Nu. Sie schrie: »Asher!« in den Wind. »Asher, du Idiot, komm zurück!« Sie hatte gewollt, dass er fortging und sein Leben ohne sie genoss, nicht dass er den Planeten verließ.
    »Er kann dich nicht hören, Campbell«, rief ihre Mutter.
    Cam folgte dem über die Bucht kreisenden Strahl des Leuchtturms mit den Augen und suchte das Wasser nach einem Boot ab, aber alles, was sie sah, waren stahlgraue Wellen mit weißen Schaumkronen, die sich aufeinanderstürzten und ans Ufer rasten. »Er muss dort irgendwo sein, ganz in der Nähe. Warum können sie nicht nach ihm suchen?«, rief Cam verzweifelt.
    »Man kann niemanden in diesen Sturm hinausschicken, Campbell. Wir müssen warten, bis das Wetter sich beruhigt hat.«
    Cam ging im Regen auf und ab. »Ich bleibe hier und halte nach ihm Ausschau.«
    »Campbell, sei nicht dumm, du kannst da draußen nichts für ihn tun«, sagte ihre Mom.
    »Nein, das ist meine Schuld. Ich warte hier auf ihn.«
    »Campbell!«, rief ihre Mutter entnervt und ging ins Haus, um nach Regensachen und Schirmen zu suchen. Sie fand Ashers gelbes Segelzeug und zwang Cam, hereinzukommen, sich abzutrocknen und es anzuziehen, ehe sie wieder hinaus auf den Witwengang trat. »Warum kannst du nicht hier drin warten? Dafür wurde das Ding doch gebaut. Zum Warten.«
    »Ich muss einfach hier draußen sein, okay?« Sie musste fühlen, was er fühlte, ohne ein Hindernis dazwischen. Sie musste hier draußen stehen und ihm ihre Gedanken schicken, denn Gedanken sind Energie, Energie ist Materie, und Materie geht nicht verloren. Mit ihren Gedanken konnte sie ihn in der Nähe halten. Sie wusste, wenn sie in ihrer Achtsamkeit nachließ, würde er auf Nimmerwiedersehen davontreiben. »Du brauchst nicht bei mir zu bleiben.«
    Natürlich blieb ihre Mutter bei ihr, und sie hockten sich hin und kauerten sich dicht aneinandergedrängt an die Wand der Kuppel. Alicia versuchte, Cam mit Schirmen vor dem Regen zu schützen, doch die wurden ständig vom Wind nach außen gestülpt. Schließlich gab sie es auf und steckte den Kopf zwischen die Knie. Cam glaubte, sie Ave-Marias beten zu hören.
    »Ist das jetzt das richtige Gebet?«
    »Es ist das einzige, das ich kenne. Ich bin eine schlechte Katholikin.«
    »Das macht nichts«, sagte Cam.
    Sie hielt weiter Wache und visualisierte immer wieder, wie Asher das Boot in den Hafen steuerte. Sie sah es vor ihrem geistigen Auge auf den Anleger zutreiben und ihn geschmeidig hinüberspringen, um die Leinen festzumachen, wie sie es von ihm kannte.
    Es regnete noch immer, als die ersten weißen Sonnenstrahlen versuchsweise durch die Sturmwolken hindurchbrachen. Der Wind hatte etwas nachgelassen, aber er blies Cam den Regen nun seitlich ins Gesicht. Die Bucht war inzwischen ruhiger, schwarz und leer.
    Cam wollte aufstehen, stolperte jedoch und fiel über die Knie ihrer Mutter.
    »Campbell, mein Gott, du glühst ja!«, rief Alicia.
    Sie half Cam, ins Zimmer zurückzugehen und ihre nassen Kleider auszuziehen, und dann begannen die Anfälle. Die Kälte, das Fieber, die Schmerzen und die Erschöpfung kamen zusammen und schüttelten sie, und sie konnte nicht aufhören zu zittern. Sie zitterte so schlimm, dass Perry und Nana helfen mussten, sie unter die heiße Dusche zu stellen und in warme Sachen zu stecken. Trotzdem ging das Zittern weiter und steigerte sich bis zu krampfartigen Zuckungen, und da wussten sie, dass das kleine Backsteinkrankenhaus von Promise nicht genügen würde. Sie stiegen alle zusammen ins Auto und fuhren nach Portland.

S IEBENUNDDREISSIG
    Seltsamerweise fühlte Cam sich hier sicher. Sie war wieder in den heiligen, sterilisierten Hallen der Schulmedizin, war an den Ausgangspunkt ihrer Reise zurückgekehrt. Das unregelmäßige Piepen der Monitore beruhigte sie, und sie fühlte sich kühl, sauber und hydriert, dank der Kochsalzlösung, die mit 10 ml pro Minute in ihre Adern gepumpt wurde. Man hatte offenbar auch noch etwas anderes in sie hineingepumpt, denn trotz der zwei dicken Thoraxdrainagen, die durch ihre Rippen gebohrt worden waren, spürte sie keine
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