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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee
Autoren: Wendy Wunder
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wenn man ihnen nicht antwortete, also ignorierte Cam die Frau.
    »Du hast wirklich den Bogen raus, wie man ›Strenge aus Liebe‹ verabreicht. Heißt das nicht so in Dr. Phil , dieser Psychologieshow?«, sagte der Schatten.
    Es ist ein Wäscheberg , sagte sich Cam. Es ist nur ein Stuhl mit einem Haufen Wäsche darauf. Sie tastete auf dem Boden neben ihrer Matratze nach dem Advil und schluckte acht auf einmal.
    »Ganz schön egoistisch von dir, einfach über seinen Kopf hinweg zu entscheiden, wie er mit der Situation umgehen soll«, sagte der Stuhl.
    »Er soll nicht noch mehr Tod und Verlust ertragen müssen«, konnte Cam sich nicht bremsen zu erwidern. »Es ist besser für ihn, wütend zu sein als deprimiert.«
    Mist , dachte sie. Nun, da sie mit ihr gesprochen hatte, würde die gruselige Hexe nie verschwinden.
    »Was bist du doch für eine Besserwisserin«, erwiderte die Witwe. »Vielleicht muss er ja trauern. Muss sich verabschieden, muss damit abschließen können.«
    Cam hasste diesen Ausdruck – mit etwas abschließen . Der war noch schlimmer als Strenge aus Liebe . »Wie sind Sie denn an die Psychoratgeber herangekommen?«
    »Es gibt vieles, was du über Männer nicht weißt.«
    »Ach so, aber Sie wissen alles, ja? Weil Sie hier oben herumgesessen und den Rest Ihres Lebens auf einen gewartet haben.«
    »Wir sind nicht auf die Welt gekommen, um uns allein durchs Leben zu schlagen.«
    »Vielleicht nicht, aber wir sterben allein, oder?«
    »Bin ich etwa niemand?«
    »Sie sind hier, um mir beim Sterben zu helfen?« Ein Blitz erhellte die Kuppel, sodass Cam die Gestalt kurz deutlicher sah. Sie hatte den Blick seelenruhig auf die Handarbeit in ihrem Schoß gerichtet und trug einen knöchellangen, schwarzen Rock und eine schwarze Strickjacke. Ihre Nase war lang und spitz und ihr Gesicht von Falten durchzogen, während ihre Haare immer noch wunderschön voll und rotblond waren.
    »Ja.«
    »Jetzt gleich?«
    »Bald, mein Kind.«
    »Sie sind ein Wäscheberg.«
    »Mhmm.«
    »Warum hat man Sie geschickt? Warum nicht meinen Vater? Oder Lily? Und wenn das hier so ein Wunderort ist, warum können Sie mich dann nicht einfach retten? Was ist so wundersam daran, mir etwas zu schenken, was das Leben lebenswert macht, und es mir dann gleich wieder wegzunehmen? Das ist grausam.« All die schwachsinnigen Regenbogen und Flamingos und Schneestürme im Juli werden mich nicht davor bewahren, als arme Irre zu sterben, die mit einem Stuhl spricht , dachte Cam. Wie hatte sie je etwas anderes glauben können?
    »Er ist da draußen, weißt du«, wiederholte die Witwe und deutete mit einem schaurigen, grauen Gichtfinger aufs Meer.
    Cam stand auf und sah hinaus. Die See tobte. Schäumende, lavaschwarze Wellen türmten sich aufeinander, es war das totale Chaos. Sie drehte sich zu dem Wäscheberg um, aber die Frau war verschwunden.
    Ihr Blick wanderte hinüber zum Kutschenhaus, das nur zwanzig Meter entfernt stand.
    Cam saß auf dem Bett und starrte immer noch in den Sturm. »Ziemlich verrückt, oder?«, sagte sie, als ein weißer Blitzzacken den Himmel entzweispaltete.
    »Hallo, Schatz, ich muss dir etwas sagen.« Alicia war heraufgekommen und reichte Cam einen dampfenden Becher Kakao.
    »Ja?«
    »Perry meinte, dass du und Asher euch gestritten hättet.«
    »Und?«
    »Also, anscheinend ist er danach weggefahren.« Alicia setzte sich aufs Bett und nahm Cams Hand.
    »Und?«
    »Mit dem Boot, Süße. Er ist mit dem Boot rausgefahren, und niemand hat ihn bisher erreichen können. Er ist irgendwo allein dort draußen in dem Sturm.«
    Cam blickte wieder auf das wilde Toben von Meer und Himmel. Er kommt damit klar, oder? , dachte sie zuerst und stellte sich vor, wie er mit seinen starken, fähigen Armen reffte und steuerte und die Dünung bezwang. Es gibt nichts, was er nicht kann . Dann krachte ein neuer Donner in der Ferne los und kam drohend auf sie zugerollt wie ein Schnellzug, gleich gefolgt vom nächsten ohrenbetäubenden Schlag.
    »Ich hole ihn da raus«, sagte Cam. »Ich nehme das Kajak.« Sie hievte sich vom Bett und wühlte in ihren Klamotten – siehst du, es ist nur Wäsche . Das Adrenalin übernahm die Kontrolle, sodass sie ihre Schmerzen vergaß. Sie zog ihre Jeans und ein paar T-Shirts an und ging zur Treppe. Sie konnte das. Sie hatte einen Lebensrettungskurs im Swimmingpool des Polynesian Hotels gemacht, bei dem man beigebracht bekam, wie man eine Rettungsboje aus seinen nassen Jeans macht, indem man sie mit Luft füllt und die Beine
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